Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
(berauben), nicht lügen (falsches Zeugnis geben), nicht Sexualität missbrauchen (Unzucht treiben)« sind mir präsent. Bei einem freundschaftlichen Beisammensein nach der vorletzten Kolloquiumssitzung am 2. Juli 1992 mit den Kollegen LI ZEHOU, SULAK SIVARAKSA, HEINRICH VON STIETENCRON, VASUDHA DALMIA und KARL - HEINZ POHL kommt mir der erleuchtende Gedanke, an die Freunde aus den einzelnen Religionen eine Rundfrage zu richten: Was hält Ihre jeweilige Tradition von diesen vier Grundforderungen? Und da antwortet die Inderin Vasudha Dalmia: Bereits bei Patañjali, dem Begründer des Yoga, finden sich diese vier Grundsätze. Und der Buddhist Sulak Sivaraksa: Sie sind ein wesentlicher Bestandteil des buddhistischen Kanons. Auch die Chinesen vertreten sie, und vom Judentum her sind diese vier Gebote sowieso zentral für die Hebräische Bibel, wie dann auch fürs Neue Testament und den Koran. Damit ist für mich die Entscheidung gefallen: Die vier Grundforderungen sollen die Struktur von Teil III bilden.
Im Rahmen dieser Disposition habe ich mich im Folgenden bei der Weltethos-Erklärung bemüht, auf die tiefere ethische Ebene , die Ebene der verbindlichen Werte , unverrückbaren Maßstäbe und inneren Grundhaltungen vorzustoßen und nicht auf der juristischen Ebene der Gesetze, kodifizierten Rechte und einklagbaren Paragraphen stehen zu bleiben, aber auch nicht auf der politischen Ebene der konkreten politischen Lösungsvorschläge. Es geht ja im Ethos primär – bei allen Konsequenzen für die konkreten Sachgebiete – um den inneren Bereich des Menschen, das Forum internum, um die Sphäre des Gewissens , oder wie es in anderen kulturellen Traditionen heißt, des »Herzens« , die nicht direkt den durch politische Macht (Staatsmacht, Gerichte, Polizei) durchsetzbaren Sanktionen ausgesetzt ist.
Es geht mir nun darum, die Erklärungen zu den einzelnen »unverrückbaren Weisungen« konsensfähig und zugleich selbstkritisch zu gestalten. Sie sollten wirklichkeitsbezogen und gleichzeitig allgemein verständlich sein. Sie sollten zwar in der religiösen Tradition fundiert sein, aber zugleich eine nichtreligiöse Begründung nicht ausschließen. Deshalb versuche ich nun, bei jeder der vier unverrückbaren Grundweisungen dieselbe Textstruktur zur Geltung zu bringen. Ausgangspunkt (A) ist immer die negative wie auch die positive Fassung der Weisung, zum Beispiel »Du sollst nicht töten! – Hab Ehrfurcht vor dem Leben!«. Anschließend wird der Grundsatz erklärt und in die Gegenwart übersetzt (B). Aber immer wird in einem dritten Schritt (C) deutlich gemacht, dass es sich hier nicht nur um eine einzelne Weisung handelt, sondern dass von Personen wie Institutionen eine ethische Kultur , zum Beispiel eine Kultur der Gewaltlosigkeit, geschaffen werden solle. Dabei habe ich besonders die jungen Menschen im Auge, sodass der dritte Abschnitt jeweils beginnt: »Deshalb sollen schon junge Menschen in Familie und Schule lernen, dass …« In einem vierten Schritt (D) werden weitere konkrete Anwendungsbereiche angesprochen, zum Beispiel in der ersten Weisung die ökologische Problematik. Im letzten Abschnitt (E) wird immer der Bezug hergestellt zum wahrhaften Menschsein: »Wahrhaft Menschsein heißt im Geist unserer großen religiösen und ethischen Traditionen …«
Der kurze vierte Hauptteil (IV) mit dem Titel Wandel des Bewusstseins markiert den Schluss der Erklärung. Darin wird darauf hingewiesen, dass erstens ein universaler Konsens für viele umstrittene Einzelfragen weder gegeben noch unbedingt notwendig ist; dass zweitens einzelne Berufsgruppen auch ihre eigenen Ethik-Codes haben können und sollen; dass drittens die einzelnen Glaubensgemeinschaften selbstverständlich auch ihr ganz spezifisches Ethos beibehalten und ausformulieren können. Zum Abschluss wird betont, dass die Weltethos-Erklärung zu einem individuellen und kollektiven Bewusstseinswandel beitragen soll, zu einer Umkehr der Herzen. Die Erklärung endet mit dem Satz: »Deshalb verpflichten wir uns auf ein gemeinsames Weltethos: auf ein besseres gegenseitiges Verstehen sowie auf sozialverträgliche, friedensfördernde und naturfreundliche Lebensformen.«
Durch intensive Arbeit ist es mir möglich, schon am 14. Juli 1992 den ersten Entwurf auch des Hauptteils der Erklärung an verschiedene Experten zur Stellungnahme und Korrektur zu verschicken. Er findet ausnahmslos große Zustimmung, bleibt in seiner Grundstruktur unverändert, wird aber dank
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