Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Blair gerade nach Tübingen? Nun, er kennt mich aus meinen Büchern, und er kennt mich durch einen gemeinsamen Freund, den aus Australien stammenden anglikanischen Geistlichen PETER THOMSON . Dieser, ein eifriger Leser meiner Bücher, ist seit seiner Studienzeit im selben College in Oxford mit Tony Blair befreundet, sodass Blair mit seiner Familie auf dessen Ranch in Australien Ferien macht. Thomson, der seinen Freund Religion als eine lebendige Wirklichkeit entdecken hilft, lässt mich wissen, Tony Blair sei sehr am Kontakt mit mir interessiert und würde sich über einen Besuch in England freuen. So kann ich am 20. Mai 1999 nach London fliegen, um Tony Blair in »10 Downing Street« zu treffen. Doch dauert an diesem Tag die Parlamentsdebatte über eine soziale Frage länger als vorgesehen, und so treffen wir uns im Parlament zu Westminster. Ich erkläre Tony Blair zuerst, wie es mich gefreut habe, dass er verkündete: Es könne doch nicht sein, dass in einer Ecke Europas, in Nordirland, Katholiken und Protestanten noch mit Waffengewalt gegeneinander kämpften, es müsse jetzt endlich Friede geschaffen werden. Und durch sein zähes Verhandeln hat er dann auch Frieden geschaffen und das »Karfreitagsabkommen« 1998 zustande gebracht. Es folgt ein lebhafter Gedankenaustausch über interreligiösen Dialog, Weltethos und Weltfrieden: Wir verstehen uns auf den ersten Blick, und es herrscht in allen wichtigen Fragen Einverständnis.
Diese Erfahrung ermutigt mich, meinen Plan weiterzuverfolgen, Tony Blair als ersten Weltethos-Redner nach Tübingen einzuladen. Am 2. November 1999 mache ich zunächst Peter Thomson in einem Brief den Vorschlag mit der Bitte, bei Tony Blair vorzufühlen. Auf Thomsons positive Signale hin richte ich schließlich am 16. November brieflich die direkte Einladung an den Premierminister, die Erste Weltethos-Rede über die Beziehung zwischen Politik und Weltethos zu halten. Dann passiert zunächst einmal nichts.
Aber umso größer ist die Freude, als mir am 11. Februar 2000 ANJI HUNTER , die »Special Assistant des Premierministers«, telefonisch mitteilt, Tony Blair sei grundsätzlich bereit, nach Tübingen zu kommen. Obwohl wir alle in der Stiftung Weltethos darauf gehofft hatten, ist diese Zusage doch eine Sensation für unsere Stiftung und ganz Tübingen. Dankbar schicke ich brieflich einen Programmvorschlag nach London. Am 30. März bestätigt mir auch Peter Thomson, dass Tony Blair kommen will. Nun kann die Organisationsmaschinerie für dieses außergewöhnliche Ereignis anlaufen. Als Termin ist der 30. Juni 2000 festgelegt. Am 9. Mai halte ich in der St. Paul’s Cathedral in London die Gresham Special Lecture über das Thema »A Global Ethic – a Challenge for the New Millennium«. Bei dieser Gelegenheit kann ich DAVID MILIBAND , »Head of the Policy Unit« in 10 Downing Street treffen, später (2007 – 10) Außenminister unter Blairs Nachfolger GORDON BROWN .
Der Besuch des Premierministers in Tübingen soll kein Staatsbesuch sein. Aber naturgemäß beschäftigt er doch die staatlichen Organe in London, Berlin und Stuttgart. Wir in unserer kleinen Stiftung Weltethos sind plötzlich mittendrin in einem Kommunikationsnetz mit 10 Downing Street, mit dem britischen Botschafter in Berlin, mit dem Protokollchef des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, den Sicherheitsorganen und selbstverständlich mit allen Instanzen der Universität und der Stadt: eine Menge von Gesprächen, E-Mails, Faxen und Telefonanrufen hin und her … Mir ist daran gelegen, dass Tony Blair von London mit dem Regierungsflugzeug direkt nach Stuttgart fliegt und erst auf dem Rückweg einen Höflichkeitsbesuch in Berlin abstattet.
So empfangen denn am 30. Juni 2000 der Rektor der Universität, Professor EBERHARD SCHAICH, und ich den hohen Gast direkt auf dem Stuttgarter Flugfeld und fahren mit ihm, von Polizeifahrzeugen eskortiert, schnurstracks nach Tübingen zur Neuen Aula. Schon bei der Einfahrt auf dem Universitätsplatz wird Blair von einer Menge applaudierender Studenten begrüßt, aber unter ihnen ist auch eine kleine Gruppe Protestierender; sie werfen Blair seine allzu liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie die britische Beteiligung am Kosovokrieg vor. Der Festsaal mit seinen rund 800 Sitzplätzen ist überfüllt. Zum ersten Mal setzt die Universität auf unsere Bitten hin einen Großbildschirm ein, mit Übertragung auch in das Auditorium maximum nebenan. Den Ablauf
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