Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Menschheit dienen können. Sissela Bok ist übrigens die Tochter des schwedischen Nobelpreisträgers für Wirtschaft von 1974, GUNNAR MYRDAL , mit dem ich einmal in einem Studio in Manhattan in einer Fernsehsendung am frühen Morgen in einem kurzen, aber intensiven Meinungsaustausch stehen durfte. Dabei fragte ich den Autor des berühmten Buches »An American Dilemma« (1995), an welchem Punkt er sich in seiner Analyse der Widersprüche der amerikanischen Demokratie getäuscht habe. Und er antwortete unumwunden: Er habe als säkularer Schwede nie gedacht, dass die Religionen noch einmal eine gesellschaftspolitische Kraft ersten Ranges werden würden. Aber seit Martin Luther King und der neuen Befreiungsbewegung sei er eines Besseren belehrt worden.
Wie immer, auf dem UNESCO-Treffen in Paris 1997 halte ich es nicht für opportun, meinen bereits fertigen Entwurf einer Pflichtenerklärung aus der Tasche zu ziehen. Doch schlage ich anschließend Yersu Kim vor, für das zweite UNESCO-Treffen in Neapel im Dezember 1997 die bis dahin approbierte und veröffentlichte Erklärung der Menschenpflichten als Grundlage für das Abschlussdokument der UNESCO zu nehmen. Auf diese Weise wären die Kräfte gebündelt worden, und das inhaltlich sehr vage formulierte UNESCO-Dokument hätte an Substanz gewonnen. Doch zu meinem großen Ärger ist der Vorsitzende nicht bereit, die Menschenpflichten-Erklärung ernsthaft zur Diskussion zu stellen und sich auf ihre Herausforderungen einzulassen. Folglich ist für mich der Weg über die UNESCO nicht mehr sinnvoll.
Doch hatte sich mir bereits im Jahr zuvor eine dritte Türe geöffnet: der vom japanischen Premierminister TAKEO FUKUDA gegründete InterAction Council früherer Staats- und Regierungschefs unter der Leitung des deutschen Bundeskanzlers a. D. HELMUT SCHMIDT . Durch diese Türe schreite ich nun entschlossen.
Ein Vorkämpfer des Weltethos: Helmut Schmidt
Kein Staatsmann hat mehr zur Verbreitung der Idee eines Weltethos getan als der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt. Lange ist er von vielen als reiner Pragmatiker, als bloßer »Macher« von Politik verkannt worden. Übersehen wurde: Helmut Schmidt praktizierte einen realistischen Zugang zu den Problemen, doch hatte er auf seine Weise eine moralische Haltung wie sein US-Counterpart, Präsident JIMMY CARTER . In meiner Einführungsrede zur Veröffentlichung des Buches »Aber ich brauche die Gebote …«von RAINER HERING über Helmut Schmidt, die Kirchen und die Religion in Hamburg am 22. März 2012 kann ich ihm öffentlich bescheinigen, dass er Glauben, Kirchen und Religionen vor allem unter ethischen Gesichtspunkten wertet. Religionen und insbesondere das Christentum sind ihm wichtig für die Vermittlung von moralischen Wertvorstellungen und ethischen Normen, die für ein friedliches Zusammenwirken der Menschen und Staaten unabdingbar sind.
Ich hatte, wie berichtet (Bd. 2, Kap. VI: »Seiner Heiligkeit loyale Opposition«), Helmut Schmidt im Hause Klasen bei einem Abendessen als meinen Tischnachbarn. Schon 1977 war Helmut Schmidt als Bundeskanzler eigens von Warschau nach Krakau gereist, um dort (auf Anraten des Wiener Kardinals Franz König) Erzbischof KAROL WOJTYŁA zu treffen, der als liberaler galt als der Primas von Polen, Kardinal Wyszyński. Tief enttäuscht ist der Bundeskanzler, dass sich Wojtyła dort mit der wenig glaubwürdigen Entschuldigung verleugnen lässt, er sei in »Exerzitien« gegangen. Zu allem Überfluss lässt er dem Kanzler durch den Domdekan ein schweres Buch über den Krakauer Dom überreichen. »Der Mutigste ist er nun auch nicht gerade«, kommentiert Helmut Schmidt mir gegenüber.
Der Kanzler trifft Wojtyła dann als Papst am 9. Juli 1979 in Rom. Ihm ist die Frage der Familienplanung angesichts der drohenden Bevölkerungsexplosion ein Herzensanliegen. Er hatte gehofft, Wojtyła zur Zulassung empfängnisverhütender Mittel zu bewegen mit der Beschreibung des Teufelskreises zwischen Bevölkerungsexplosion, Unterentwicklung und Massenarmut, besonders in Afrika. Aber der rational-pragmatisch argumentierende Politiker vermag den dogmatisch verfestigten Kirchenführer nicht zu überzeugen, auch nicht von der Notwendigkeit einer neuen Sozialenzyklika für Lateinamerika. Doch Helmut Schmidt findet diesen Papst »warmherzig« und gesteht mir, dass er, wenn er je das Bedürfnis der Beichte habe, bei diesem Papst beichten würde. Meine Antwort an den hanseatischen Protestanten: »Sie haben
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