Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Eröffnungsgottesdienst für das Konklave statt, nicht in der Abgeschlossenheit der Sixtinischen Kapelle, sondern in St. Peter. Im Vordergrund steht dort die programmatische Rede zur Papstwahl, die nicht ein päpstlicher Prediger, sondern wieder der Kardinaldekan Ratzinger hält. Es ist die berühmt-berüchtigte Rede »Gegen die Diktatur des Relativismus«, unter welchem Etikett er alle ihm nicht genehmen modernen Strebungen subsumieren und diskreditieren konnte. So präsentiert sich ein erzkonservativer Kardinal tagtäglich seinen konservativen Kollegen als höchst kundiger und gewandter »Papabile« – wer könnte das perfekter als er? Ist dieser Joseph Ratzinger nicht ein Fels in der Brandung der Zeiten? Soll jemand gegen solche massive Indoktrinierung der Wahlmänner ankommen?
Trotzdem bleibe ich überzeugt, dass es für Ratzinger im Konklave keine Zweidrittelmehrheit geben würde. Schließlich ist der Präfekt der Glaubensinquisition immer mehr gefürchtet als beliebt unter seinen Kollegen, und ich kann mir nicht vorstellen, wie man gerade ihn dem Volk als guten Hirten vorstellen konnte. Wie immer, ich habe mich meinerseits auf das Konklave vorbereitet und einen Brief an die Kardinäle entworfen, der ihnen für die Wahl des Papstes Kriterien vorlegt, die sich am Neuen Testament, an der großen katholischen Tradition und den Erfordernissen der Gegenwart orientieren.
Selbstverständlich habe ich mir eingehend selbstkritisch überlegt, inwiefern ich als einzelner Theologe einen Brief an das gesamte Kardinalskollegium richten dürfte. Aber nun hatte ich mich immerhin seit den 1960er-Jahren durch ein umfangreiches theologisches Œuvre ausgewiesen, sodass ich besonders für die Fragen der Kirche ein gut ausgewiesener Fachmann bin. Darüber hinaus bin ich mit Joseph Ratzinger noch einer der beiden letzten voll aktiv tätigen Konzilstheologen und kann mich von daher mit vollem Recht für die Realisierung der Desiderate des Zweiten Vatikanischen Konzils einsetzen. Und so lautete denn mein Brief in der deutschen Originalfassung:
Kriterien für die Papstwahl: ein Brief an die Kardinäle
April 2005
In Hoffnung auf eine Erneuerung der Kirche
»Sehr verehrte Herren Kardinäle,
nach einem überaus langen Pontifikat versammeln Sie sich zur Papstwahl: eine Schicksalsstunde für die katholische Kirche des 21. Jh. – zu vergleichen mit der Versammlung zum Zweiten Vatikanischen Konzil im 20. Jh.
Mit meinem früheren Tübinger Kollegen und jetzigen Präfekt der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger bin ich wohl der letzte noch voll aktive Konzilstheologe.
Vor 45 Jahren hatte ich das Buch ›Konzil und Wiedervereinigung‹ (1960) geschrieben, das vielen Konzilsteilnehmern als Orientierungshilfe diente. Gestatten Sie deshalb, liebe Mitbrüder, mir altgedientem Theologen, der bei aller Kritik an der Politik des verstorbenen Papstes immer treu zu seiner Kirche gestanden hat, Ihnen einige Überlegungen zu unterbreiten, die, wie ich meine, wichtige Gesichtspunkte für die kommende Wahl bieten können.
Im Vatikanum II hatten wir unterschieden zwischen den Problemen der Kirche ad extra und denen ad intra. Und ein Großteil der Katholiken dürfte mit mir der Meinung sein: Ad extra, nach außen, kann die Linie Johannes Pauls II. weithin fortgesetzt werden: Auch der nächste Papst sollte ja ein Verteidiger der Menschenrechte sein, ein Förderer des Weltfriedens und ein Brückenbauer zu den anderen Religionen. Aber wie steht es mit der Kirche ad intra?
Offene Gespräche mit Seelsorgern und Gläubigen in Ihren Heimatdiözesen werden Ihnen bewußt gemacht haben: Der innere Zustand unserer Kirche ist schlechter als vor 30 Jahren. Immer wieder war ein Widerspruch festzustellen zwischen des Papstes Engagement nach außen, in der Welt, und einem fehlenden Engagement für Menschenrechte, Frieden und Dialog innerhalb der Kirchengemeinschaft. Natürlich ist der Einsatz nach außen einfacher, da man anderen ins Gewissen reden kann, als der nach innen, wo eine selbstkritische Gewissenserforschung gefordert ist, die möglicherweise unbequeme Konsequenzen hat. Ein kommender Papst kann jedenfalls die Menschen nur dann überzeugen, wenn er die Reform bei sich und den Seinen anfängt. ›Reformatio in capite et membris‹ – eine Forderung schon im Spätmittelalter: ›Reform an Haupt und Gliedern‹.
Doch was für einen Papst braucht unsere Kirche in dieser Stunde? Darum kreist gewiß auch Ihr Denken. Ich fasse alles in fünf
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