Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
dass ohne Reformen in Staat und Kirche auch in der Irischen Republik keine Annäherung erreicht werden könne. Insofern hat die von seiner Regierung initiierte Abstimmung für die begrenzte Freigabe von empfängnisverhütenden Mitteln für Bürger ab 18 Jahren epochale Bedeutung: Es ist die erste Parlamentsentscheidung in der irischen Geschichte gegen den ausgesprochenen Willen der katholischen Hierarchie! Die Autorität des Staates, so stellt der Premier befriedigt fest, hat sich gegen allen Druck der Kirche behauptet. Und die Protestanten im Norden haben ein Argument weniger gegen die Irische Republik. Die Frage der zivilen Ehescheidung würde demnächst zur politischen Entscheidung anstehen, und ein liberales Gesetz zur Abtreibung wäre dann auch an der Zeit.
Wir verstehen uns perfekt: Eine reformorientierte Regierung braucht als Partner eine reformorientierte Kirche. Es macht mir Spaß, mit Garret anschließend in seiner Regierungslimousine unter Polizeischutz durch Dublin zu brausen, erinnert mich freilich auch daran, dass hier Attentate noch immer zu befürchten sind. Traurigerweise kommt es weiterhin zu vielen Gewaltakten. Aber der leidenschaftliche Europäer erreicht nicht nur eine Entspannung zwischen Dublin und Belfast, sondern auch eine Normalisierung der Beziehungen mit den britischen Nachbarn. In schwierigen Verhandlungen mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher erreichte er noch im Jahr meines Besuches 1985 das anglo-britische Abkommen von Hillsborough, das zum ersten Mal seit der Gründung des Irischen Freistaates (1922) der Irischen Republik ein formales Mitspracherecht in nordirischen Angelegenheiten zugesteht. Auf die Frage, ob er die Iron Lady geliebt habe, war seine typische Antwort: »It didn’t really matter as long as she liked me – das spielte wirklich keine Rolle, solange sie mich liebte.«
Es wird in Irland allgemein als symbolhaft empfunden, dass FitzGerald am 19. Mai 2011 mit 85 Jahren genau in den Tagen stirbt, da Königin Elisabeth II. als erster Monarch die Irische Republik besucht und die britisch-irischen Beziehungen auf eine neue Grundlage stellt. Grundlage dieser positiven Entwicklung war das »Karfreitagsabkommen« von 1998. Damit war der entscheidende Schritt zum Frieden in Irland getan worden. Thatchers Nachfolger als Premierminister, TONY BLAIR, hat sich für das Zustandekommen dieses Abkommens bleibende Verdienste erworben – ein Hauptgrund, wie gesagt, warum ich ihn einlade, im Jahr 2000 die erste »Weltethos-Rede« der Stiftung Weltethos an der Universität Tübingen zu halten.
Doch zurück zu meinen Vortragsreisen von 1985. Die erste Station ist die gespaltene, von Attentaten erschütterte nordirische Hauptstadt Belfast , wo ich in der anglikanischen St. Anne’s Cathedral spreche. Dort ist man vor allem überrascht, dass der demagogische protestantische Pastor IAN PAISLEY mit seinen Leuten nicht , wie eigentlich zu erwarten ist, vor der Kathedrale gegen mich demonstriert.Diesen katholischen Theologen kann er ja nun nicht als »Römling« oder »Papist« kritisieren und disqualifizieren. Der Beifall für meine Rede ist gerade hier überwältigend, obwohl ich auch die protestantische Seite deutlich kritisiere.
Am nächsten Tag werde ich von Canon BILL ARLOW , Vermittler der anglikanischen Kirche im irisch-englischen Streit, im Auto von Belfast nach Dublin gefahren. Nahe der Grenze zwischen Nordirland und der Irischen Republik zeigt er auf das Haus, wo die Verhandlungen stattgefunden haben, und erzählt mir vom grausamen Schicksal der Kinder derer, die im Verlauf der bereits seit über 15 Jahren dauernden Auseinandesertzungen auf katholischer Seite erschossen wurden und nun meinen, unbedingt ihren Vater oder Bruder rächen zu müssen. Immer noch steht mir das steinerne Mahnmal in Drogheda, südlich der Grenze zwischen Nordirland und der Irischen Republik, vor Augen, errichtet an der Stelle, wo JOHANNES PAUL II. am 29. September 1979 seinen pathetischen Appell an die gewalttätigen katholischen und protestantischen Gruppen in Nordirland gerichtet hatte: »Auf den Knien flehe ich euch an: Kehrt um vom Weg der Gewalt und kehrt zurück zu den Wegen des Friedens.« Dieser Friedensappell blieb damals völlig ungehört und unbefolgt: Um die 2500 Tote und Zehntausende von Verletzten waren es bis dahin – von zahllosen ausgebombten Häusern und zerstörten Fahrzeugen ganz zu schweigen.
Die irische Presse berichtet ausführlich von meiner Warnung an
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