Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Kirche der ganzen Welt wahrgenommen werde.
Nachmittags um 5 Uhr am Eingang zum Palazzo Apostolico werde ich begrüßt vom lang gedienten Major der Schweizergarde, unterhalte mich kurz mit den beiden Gardisten, dann begleitet mich ein Italiener zum Lift, hinauf zu den Salotti Privati. Ich werde vom Privatsekretär Dr. Gänswein herzlich empfangen, der mich in ein kleines Empfangszimmer führt. Nur ein Augenblick, und ich werde geholt und hinübergeführt ins Arbeitszimmer des Papstes.
Er kommt mir sofort lächelnd entgegen, gibt mir die Hand und sagt: »Ich danke Ihnen.« Ich meinerseits: »Heiliger Vater, ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie mir Gelegenheit zu diesem Gespräch geben; ich sehe dies als keineswegs selbstverständlich an.« Er meint: »Ja, es ist ja auch schon einige Zeit her, 1983 war’s wohl, am Chiemsee.« Ich sage: »Ja, 1983.« Er bittet mich, Platz zu nehmen. Ob ich Tee nehme? Gerne. Ich erzähle ihm, dass ich schon 1948 zum ersten Mal in diesem Palazzo gewesen sei. Er staunt: »Schon unter Pius XII.?« Ich: »Ja, mit den Germanikern des ersten Jahrgangs und den Primizianten.« Das könnte man heute nicht mehr machen, sagt er, es gebe in Rom zu viele Kollegien, die das auch wollten.
Die Stimmung ist von Anfang an recht selbstverständlich, fast so wie zu Tübinger Zeiten. Keine besonderen Feierlichkeiten. Während er jedoch bei unserer letzten Unterredung am Chiemsee eher verkrampft wirkte und wir schon beim ersten Gesprächspunkt völlig verschiedene Positionen hatten, ist er jetzt wieder, wie ich ihn von früher her kenne: liebenswürdig, aufmerksam, freundlich, immer noch sehr rasch im Begreifen und rasch im Formulieren, und bei bestimmter Gelegenheit auch zu einem sehr spontanen Lachen fähig, das nicht so gezwungen wirkte wie das, was nicht nur ich bei Walter Kasper immer als etwas verkrampft angesehen habe. Das Gespräch spielt sich durchgängig auf hohem intellektuellem Niveau ab. Man merkt, dass er sich in der Geschichte gut auskennt und natürlich auch viele Kenntnisse hat von der Welt, die ihm besonders durch seine ständigen Kontakte mit dem Episkopat zufließen.
Nach dieser Einleitung fragt der Papst dann prosaisch: »Und nun, worüber wollen Sie reden?« Ich antworte: »Wir haben ja vereinbart, dass wir nicht die kontroversen Kirchenfragen ansprechen, vielmehr die grundlegenden Fragen, die heute für Kirche und Gesellschaft wichtig sind.« Da scheine mir eben das Problem der Säkularisierung besonders zentral, wo wir hier ein gemeinsames Anliegen hätten und wo es eben auch darauf ankomme, wieder neu Religion und Ethos zur Sprache zu bringen.
Und ich erzähle ihm nun von Potsdam, dass ich gerade auch vor Physikern und anderen Naturwissenschaftlern davon gesprochen habe, wie wichtig Ethos sei. In dem Moment wird er sofort sehr lebendig und sagt: »Ja, das ist ungeheuer wichtig, und ich danke Ihnen sehr herzlich für das Buch (»Der Anfang aller Dinge«), das Sie mir geschickt haben. Das ist ja hervorragend, wie Sie das gemacht haben. Es gibt leider kaum noch jemanden in der deutschsprachigen Theologie, der das auf diesem Niveau tut und Akzeptanz findet. An sich wären die Fundamentaltheologen zuständig, aber da gibt es kaum einen, der das ernsthaft betreibt. Ich finde es sehr gut, dass Sie das gemacht haben.«
Er will mir nun auch seinerseits ein Buch dedizieren, in dem er zum Problem der Säkularisierung Stellung nimmt; er hat es geschrieben zusammen mit dem atheistischen Philosophen und italienischen Senatspräsidenten MARCELLO PERA : »Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur« (Augsburg 2005). Er geht zum Schreibtisch und schreibt dort die schöne Widmung hinein: »Professor Hans Küng freundschaftlich zugeeignet, Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, Castelgandolfo 24. 9. 2005.«
Wir reden dann noch einige Zeit über das Verhältnis der Religionen zu den Naturwissenschaften . Mit Anspielung auf eine unglückliche Kolumne seines Schülers Kardinal CHRISTOPH SCHÖNBORN (Wien) betone ich, wie sehr es gerade in der Evolutionstheorie darauf ankomme, dass man bei den Fakten ansetze, die Wissenschaftler dort abhole, wo sie selber seien und nicht zu früh theologische Hypothesen einführe. Es fällt durch das ganze Gespräch hindurch kein einziges kritisches Wort von seiner Seite, keine Mahnung, keine Kritik an irgendetwas, was ich getan hatte. Insofern ist die Atmosphäre äußerst angenehm.
Natürlich bringe ich dann das Gespräch auf das
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