Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
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Abkehr vom Konzil: konzilsfeindliche Bischöfe akzeptiert
Joseph Ratzinger verpasst als Papst die historische Chance , das Zweite Vatikanische Konzil mit seinen zukunftsweisenden Impulsen auch im Vatikan zum Kompass der katholischen Kirche zu machen und ihre Reformen mutig voranzutreiben. Im Gegenteil, immer wieder relativiert er die Konzilstexte und interpretiert sie gegen den Geist der Konzilsväter nach rückwärts. Er nennt dies eine »Hermeneutik der Kontinuität«, welche die Umbrüche und Neuansätze des Konzils nicht wahrhaben will.
Ja, Papst Benedikt stellt sich sogar ausdrücklich gegen das Ökumenische Konzil , das nach der großen katholischen Tradition die oberste Autorität in der katholischen Kirche darstellt: Am 15. Dezember 2008 hebt Papst Benedikt XVI. die Exkommunikation der außerhalb der katholischen Kirche illegal ordinierten Bischöfe der traditionalistischen Pius-Bruderschaft auf, die das Konzil in zentralen Punkten (vor allem Religionsfreiheit, Liturgie, Ökumene, Judendekret) ablehnen. Ohne alle Vorbedingungen nimmt er sie in die Kirche auf. Erschwerend kommt noch hinzu, dass unter vier allesamt antisemitischen Bischöfen der Engländer RICHARD WILLIAMSON ein ausdrücklicher Holocaust-Leugner ist, was den Papst erneut in Konflikt mit den Juden bringt. Zudem fördert Benedikt mit allen Mitteln die mittelalterliche Tridentinische Messe und feiert selber die Eucharistiefeier gelegentlich wieder auf Latein mit dem Rücken zum Volk.
Dabei ist es durchaus zu begrüßen, dass Benedikt XVI. Ausgegrenzten die Hand zur Versöhnung reicht. Aber viele Katholiken sind empört darüber, dass er gerade diese umstrittene antiökumenische und reformfeindliche Bruderschaft wieder in die Kirche eingliedern will, und fragen: Warum übt er nicht dieselbe Toleranz zum Beispiel auch gegenüber Befreiungstheologen und Reformern? Und wenn er mit der Rechtfertigung seiner Maßnahme auch noch die Gottesferne der heutigen Zeit beklagt, dann übersieht er, dass viele Menschen in den letzten Jahren und Jahrzehnten der katholischen Kirche den Rücken gekehrt haben gerade wegen jenes restaurativen Kurses, den Kardinal Ratzinger schon als Vorsitzender der Glaubenskongregation ganz wesentlich mitgestaltet hat und den er jetzt als Papst Benedikt XVI. offenbar fortsetzen möchte.
Alle Dankbarkeit für das Castel-Gandolfo-Gespräch 2005, bei welchem mir Joseph Ratzinger sein positives Gesicht zeigte, darf mich nicht daran hindern, gegen konzilsfeindliche Aktionen Papst Benedikts öffentlich Stellung zu beziehen . Als »Le Monde« in dieser angespannten Situation zwei Redakteure von Paris nach Tübingen zu einem Interview schicken will, sage ich zu. Natürlich stellen NICOLAS BOURCIER und STÉPHANIE LE BARS die Fragen, die sich in dieser Situation aufdrängen. Als ich danach dieses Gespräch zur Approbation zugestellt bekomme, sage ich meinen Mitarbeitern: »Da findet sich aber auch gar nichts Positives.« Aber wirklich Positives im Sinne von Zukunftsweisendes ist in den Aktionen dieses Papstes einfach nicht zu entdecken.
So gebe ich denn das Interview frei, und »Le Monde« publiziert es am 25. Februar 2009 auf einer ganzen Seite mit großem Foto unter dem Titel »L’Eglise risque de devenir une secte«. Dieses Interview schlägt im Vatikan ein wie eine Bombe, besonders nachdem es auch noch auf Italienisch in »La Stampa« veröffentlicht worden ist. Der Erzbischof von Turin, Kardinal SEVERINO POLETTO, und die Norditalienische Bischofskonferenz nehmen öffentlich Stellung im »Osservatore Romano«. Auch der frühere Staatssekretär Kardinal ANGELO SODANO meldet sich. Schließlich liest man im römischen »Messaggero«, dass der Papst bei der Lektüre dieses Interviews »amareggiato« (»verbittert«) gewesen sei.
Doch konnte Papst Benedikt wirklich damit rechnen, mich durch jenes freundschaftliche Gespräch auf die Dauer ruhiggestellt zu haben? Einzelne Kritiker hatten schon vermutet, der Wolf habe Kreide gefressen. Aber Kreide fressen ist nicht meine Art. Wenn es nun einmal unabdingbar ist, nehme ich Stellung. Das tue ich in verschärfter Form am 22. Mai 2012 durch eine weit verbreitete warnende Pressemeldung , provoziert durch verstärkte päpstliche Bemühungen um »Versöhnung« mit den traditionalistischen Bischöfen und Priestern:
»… Diese (›Versöhnung‹) soll selbst dann geschehen, wenn die Piusbrüder, die entscheidende Konzilstexte weiterhin ablehnen, mit kirchenrechtlichen Kunstgriffen in die
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