Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
(»secretum Pontificium«) gestellt werden, deren Verletzung unter schwerer Kirchenstrafe steht.
Dürfte also die Kirche nicht auch vom Papst, in Kollegialität mit den Bischöfen, ein »mea culpa« erwarten? Und dies verbunden mit der Wiedergutmachung, dass das Zölibatsgesetz , das auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht diskutiert werden durfte, jetzt endlich frei und offen in der Kirche überprüft werden kann. Mit der gleichen Offenheit, mit der inzwischen die Missbrauchsfälle selbst aufgearbeitet werden, müsste auch eine ihrer wesentlichen strukturellen Ursachen, das Zölibatsgesetz, diskutiert werden. Dies hätten die Bischöfe unerschrocken und mit Nachdruck Papst Benedikt XVI. zusammen mit anderen dringenden Reformen vorschlagen sollen. Nachdem aber keiner der fast 5000 Bischöfe ein unerschrockenes Wort wagt, greife ich zu einem ungewöhnlichen Mittel:
Fünf Jahre Benedikt XVI. – eine Zwischenbilanz: offener Brief an die katholischen Bischöfe weltweit (2010)
Es handelt sich um ein Dokument, das bisher Gesagtes zusammenfasst, manches wiederholt und alles auf die Bischöfe zuspitzt. Dabei nehme ich bewusst eine gewisse »Redundanz«, einen »Überfluss« an Informationen in Kauf, der nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, dass seit 40 Jahren in der katholischen Kirche kaum echte Reformen angepackt wurden. Den Lesern aber wird auf diese Weise wie den Bischöfen der historische und sachliche Zusammenhang der Probleme bewusst gemacht.
»Verehrte Bischöfe,
April 2010
Joseph Ratzinger, jetzt Benedikt XVI., und ich waren 1962 – 1965 die beiden jüngsten Konzilstheologen. Jetzt sind wir die beiden ältesten und einzigen noch voll aktiven. Mein theologisches Schaffen verstand ich stets auch als Dienst an der Kirche. Deshalb wende ich mich am 5. Jahrestag der Amtseinsetzung von Papst Benedikt in einem Offenen Brief an Sie, in Sorge um diese unsere Kirche, die in der tiefsten Vertrauenskrise seit der Reformation steckt. Eine andere Möglichkeit, an Sie zu gelangen, habe ich nicht.
Ich habe es sehr geschätzt, dass Papst Benedikt mich, seinen Kritiker, bald nach seinem Amtsantritt zu einem vier Stunden langen Gespräch einlud, das freundschaftlich verlief. Dies hat mir damals Hoffnung gemacht, dass Joseph Ratzinger, mein früherer Kollege an der Universität Tübingen, doch den Weg finden würde zur weiteren Erneuerung der Kirche und ökumenischen Verständigung im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Meine Hoffnungen und die so vieler engagierter Katholikinnen und Katholiken wurden leider nicht erfüllt, und ich habe dies Papst Benedikt in unserer Korrespondenz auch verschiedentlich wissen lassen. Er hat zweifellos seine alltäglichen päpstlichen Pflichten gewissenhaft erfüllt und uns auch drei hilfreiche Enzykliken über Glaube, Hoffnung und Liebe geschenkt. Aber was die großen Herausforderungen unserer Zeit betrifft, so stellt sich sein Pontifikat zunehmend als einer der verpassten Gelegenheiten und nicht der genutzten Chancen dar:
– Vertan die Annäherung an die evangelischen Kirchen : sie seien überhaupt keine Kirchen im eigentlichen Sinn, deshalb keine Anerkennung ihrer Ämter und keine gemeinsamen Abendmahlsfeiern möglich.
– Vertan eine nachhaltige Verständigung mit den Juden : Der Papst führt eine vorkonziliare Fürbitte für die Erleuchtung der Juden wieder ein und nimmt notorisch antisemitische schismatische Bischöfe in die Kirche auf, betreibt die Seligsprechung Pius’ XII. und nimmt das Judentum nur als historische Wurzel des Christentums und nicht als fortbestehende Glaubensgemeinschaft mit eigenem Heilsweg ernst. Empörung von Juden weltweit über Benedikts Hausprediger in der päpstlichen Karfreitagsliturgie, der Kritik am Papst mit antisemitischer Hetze vergleicht.
– Vertan der vertrauensvolle Dialog mit den Muslimen : Symptomatisch Benedikts Regensburger Rede, in der er, schlecht beraten, den Islam als Religion der Gewalt und Unmenschlichkeit karikiert und damit anhaltendes Misstrauen unter Muslimen bewirkt.
– Vertan die Versöhnung mit den kolonisierten Urvölkern Lateinamerikas : Der Papst behauptet allen Ernstes, sie hätten die Religion ihrer europäischen Eroberer ›ersehnt‹.
– Vertan die Chance, den afrikanischen Völkern zu helfen: im Kampf gegen Überbevölkerung durch Bejahung der Empfängnisverhütung und im Kampf gegen AIDS durch Erlaubnis von Kondomen.
– Vertan die Chance, mit den modernen Wissenschaften Frieden zu
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