Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
– völlig frei verfügen können. Im ersten Jahrtausend hatte das Kardinalskollegium nur lokale oder regionale Bedeutung. Erst durch die Gregorianische Reform des 11. Jahrhunderts hatte das Kollegium der Kardinäle als einziges Wahlorgan des Papstes eine allgemein-kirchliche Bedeutung erlangt. Die Kardinäle waren und blieben seither »Kreaturen« des Papstes, von diesem allein nach seinem Gutdünken erkoren. Entsprechend redet er sie offiziell auch nicht wie die Bischöfe als »Brüder«, sondern als »Söhne« an. Gerade in der Zusammensetzung des Kardinalskollegiums haben sich noch 2012, sieben Jahre nach Benedikts Amtsantritt, wieder schwerwiegende Verschiebungen ergeben, allesamt in Richtung auf eine italienische Dominanz, wie sie bis zum Vatikanum II herrschte. Wie sie sich wohl im nächsten Konklave auswirken wird?
Hauptverantwortlich für die Re-Italianisierung ist der deutsche Papst, unter dem sich eine kleine vorwiegend italienische Clique von Jasagern an die Hebel der Macht setzen kann, die kein Verständnis für Reformforderungen haben. Ihre Vertreter finden sich sogar unter den Jurymitgliedern des von italienischen Banken gesponserten Ratzinger-Preises für theologische Studien: neben dem erwähnten Kardinalstaatssekretär Bertone Kardinal ANGELO AMATO , ebenfalls unter Ratzinger Sekretär der Glaubenskongregation, gegenwärtig Präfekt der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse – beide Mitglieder einer »Seilschaft« von Salesianern (SDB). An der Spitze der reaktionäre Ex-Präsident der italienischen Bischofskonferenz, Kardinal CAMILLO RUINI . Alle diese Kurialen sind mitverantwortlich für die Stagnation, die jede Modernisierung des kirchlichen Systems erstickt.
Nach der exakten Analyse des Rom-Korrespondenten des Londoner »Tablet«, ROBERT MICKENS , vom 17. September 2011, sind von den 126 Spitzenfunktionären in der römischen Kurie (Staatssekretariat, neun Kongregationen, zwölf päpstliche Räte, drei Gerichte) 99, also mehr als drei Viertel, von Benedikt XVI. ernannt worden. Davon sind 47 Italiener und zwölf Spanier, aber nur fünf Franzosen und drei Schweizer. Großbritannien und Polen haben je zwei, Portugal, Slowakei, Belgien, Irland und die Niederlande haben je einen Vertreter. Ganz Nordamerika hat zehn, Lateinamerika (das immerhin rund die Hälfte der Katholiken der Welt aufweist) sogar nur fünf, Afrika ebenfalls fünf und Asien nur drei. Das Erstaunliche: kein einziger Deutscher findet sich unter diesen kurialen Spitzenfunktionen, Ausdruck von Ratzingers Misstrauen gegenüber seinen zumeist kritischen Landsleuten. Erst 2012 ernennt er einen Gesinnungsgenossen, den erzkonservativen Regensburger Bischof GERHARD LUDWIG MÜLLER , zum Präfekten der Glaubenskongregation.
Dass sich unter den neuen Kardinälen des Jahres 2012 neben dem Berliner Bischof RAINER MARIA WOELKI noch ein 82-jähriger deutscher Jesuitendogmatiker der Gregoriana findet, erkoren nur wegen seiner langjährigen treuen Dienste für die Glaubenskongregation, bestätigt diese Analyse. Die meisten Auserwählten sind in Rom ausgebildet worden und zeigen eine Loyalität zum theologischen und administrativen römischen System. Zwar seien »Leute wie Professor Hans Küng ein Beweis, dass jemand ›römisch ausgebildet‹ und doch kritisch gegenüber dem römischen System« sein könne, so der »Tablet«, aber es seien doch unter den zahlreichen Kurialen kaum welche zu finden, die öffentlich »Anti-Romans« seien. Auf diese Weise wird ein System perpetuiert, das immer wieder römisch Gesinnte – und vor allem römisch gesinnte Päpste – hervorbringt. Kein Wunder, dass man sich im Vatikan bereits wieder auf einen italienischen Papst freut. Durch die Kardinalsernennungen im Februar 2012 durch Papst Ratzinger ist der kuriale Wählerblock auf 57 Mitglieder angeschwollen. Das lässt auch für die Wahl eines Ratzinger-Nachfolgers einiges befürchten. Doch Überraschungen kann man nie ausschließen.
Machiavellismus meint eine rücksichtslose Machtpolitik, wie sie in jüngster Zeit im Berlusconi-Italien üblich war. Aber auch im Vatikan verbirgt sich hinter aller römischen Freundlichkeit, liturgischen Prachtentfaltung und Pseudostaatlichkeit massive Machtpolitik. Der Vatikan kontrolliert die Besetzung von Bischofsstühlen und Theologie-Lehrstühlen und lässt nur Vatikankonforme passieren. Seine Nuntien überwachen die Bischofskonferenzen und informieren laufend die Zentrale. In diesem System haben
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