Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
infrage gestellt wird. Eine Änderung gegen den Willen Roms scheint beinahe unmöglich. Trotzdem ist man nicht zur Passivität verurteilt: Ein Priester, der nach reiflicher Überlegung zu heiraten gedenkt, müsste nicht automatisch von seinem Amt zurücktreten, wenn Bischof und Gemeinde hinter ihm stehen. Einzelne Bischofskonferenzen könnten mit einer regionalen Lösung vorangehen. Aber besser wäre es, eine gesamtkirchliche Lösung anzustreben. Deshalb:
6. Ein Konzil fordern : Wie es zur Realisierung von Liturgiereform, Religionsfreiheit, Ökumene und interreligiösem Dialog eines Ökumenischen Konzils bedurfte, so auch zur Lösung der jetzt dramatisch aufgebrochenen Reformprobleme. Das Reformkonzil von Konstanz im Jahrhundert vor der Reformation hat die Abhaltung von Konzilien für alle fünf Jahre beschlossen, was aber von der Römischen Kurie unterlaufen wurde. Zweifellos wird diese auch jetzt alles tun, um ein Konzil, von dem sie eine Beschränkung ihrer Macht befürchten muss, zu verhindern. Es liegt in Ihrer aller Verantwortung, ein Konzil oder wenigstens eine repräsentative Bischofsversammlung durchzusetzen.
Dies ist angesichts einer Kirche in der Krise mein Aufruf an Sie, verehrte Bischöfe, Ihre durch das Konzil wieder aufgewertete bischöfliche Autorität in die Waagschale zu werfen. Die Augen der Welt sind in dieser notvollen Situation auf Sie gerichtet. Ungezählte Menschen haben das Vertrauen in die katholische Kirche verloren. Nur ein offener und ehrlicher Umgang mit den Problemen und konsequente Reformen können helfen, dieses Vertrauen wiederzugewinnen. Ich bitte Sie in allem Respekt, das Ihre beizutragen, womöglich in Zusammenarbeit mit Ihren Mitbischöfen, notfalls aber auch in apostolischem ›Freimut‹ (Apg 4,29.31) allein. Geben Sie Ihren Gläubigen Zeichen der Hoffnung und Ermutigung und unserer Kirche eine Perspektive.
Es grüßt Sie in der Gemeinschaft des christlichen Glaubens
Ihr Hans Küng«
Und was war der Erfolg dieses in verschiedenster Weise unter den Bischöfen verbreiteten offenen Briefes? Wie viele Bischöfe haben reagiert? Es bedrückt mich, feststellen zu müssen: Kein einziger der fast 5000 Bischöfe hat sich zu äußern gewagt, weder mündlich noch schriftlich, weder öffentlich noch privat, weder zustimmend noch ablehnend. Die Antwort war ein großes Schweigen !
Wie ist dies zu erklären? Der Hauptgrund: Durch ein perfektioniertes römisches Selektionsverfahren, durch sakrale Vereidigung jedes Bischofs auf den geistlichen Führer und die ständige Beaufsichtigung der Bischöfe durch Nuntien und Denunzianten hat sich aus den in der Konzilszeit so lebendig diskutierenden und initiativen Gremien der Bischöfe ein fügsamer und bürokratischer kirchlicher Apparat entwickelt, der in seiner Struktur nur mit Leitungskadern in anderen totalitären und diktatorialen Systemen verglichen werden kann, wo auch niemand eine abweichende Meinung zu äußern wagt.
Doch habe ich immer wieder direkt oder indirekt von Bischöfen gehört, die meine Auffassungen teilen, dies aber aus Vorsicht eher im privaten Kontext äußern, einige allerdings auch in der Öffentlichkeit. Als Zeichen dankbarer Anerkennung seien hier einige wenige Namen genannt: Zuerst der Bischof meiner Heimatdiözese Basel, FELIX GMÜR (mit Wurzeln in Sursee), der in der römischen Bischofssynode 2012 ein deutliches Votum für Selbstkritik und Selbstreform der Bischöfe abgegeben hat. Dann der Abt von Einsiedeln, Dr. MARTIN WERLEN , Mitglied der Schweizerischen Bischofskonferenz, der im Jahr 2012 eine mutige Reformschrift veröffentlich hat mit dem Titel »Miteinander die Glut unter der Asche entdecken«. Aber auch der Innsbrucker Bischof MANFRED SCHEUER , der mir als Mit-Germaniker große Sympathie gezeigt hat und auch öffentlich für Reformanliegen eintritt.
Und natürlich nicht zu vergessen Kardinal KARL LEHMANN , langjähriger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz: Durch all die Jahre konnten wir trotz mancher Kontroversen unsere seit Konzilszeiten bestehende freundschaftliche Beziehung aufrechterhalten. Es war ein sensationelles Ereignis, dass Karl in seiner hohen Position sich nicht scheute, auf dem Katholikentag in Ulm 2004 einen öffentlichen Dialog mit mir zu führen, der zur Begeisterung der konservativen wie der progressiven Zuhörer unsere große Übereinstimmung in den meisten Punkten sichtbar machte. Wie oft habe ich mich mit ihm über Kirchenprobleme in aller Offenheit austauschen
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