Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Veränderung gehen. Die Skandale um den Missbrauch von Kindern zwingen uns, Schritte der Umkehr zu setzen. Die Fragen zur Sexualität und zu allen Themen, die den Leib betreffen, sind ein Beispiel. Sie sind jedem Menschen wichtig, manchmal vielleicht zu wichtig. Nehmen wir wahr, ob die Menschen die Stimme der Kirche zur Sexualmoral noch hören? Ist die Kirche hier eine glaubwürdige Gesprächspartnerin oder nur eine Karikatur in den Medien?«
Der Kardinal fordert zugleich, die Bibel mehr ernst zu nehmen, sie sei wichtiger als alle Regeln, Gesetze und Dogmen. Und die Sakramente? Sie sollen »keine Instrumente zur Disziplinierung sein, sondern eine Hilfe für die Menschen an den Wendepunkten und in den Schwächen des Lebens. Bringen wir Sakramente zu den Menschen, die neue Kraft brauchen? Ich denke an die vielen geschiedenen und wiederverheirateten Paare, an die Patchworkfamilien. Sie brauchen besondere Unterstützung.«
Kardinal Martini stirbt am 31. August 2012. Überall in der Welt trauern Katholiken um den letzten großen Reformbischof des Vatikanums II. Bleibt zu hoffen, dass mit ihm der Reformgeist in der Kirche doch nicht ganz erloschen ist.
Nachdem aber »von oben«, vom Papst und den meisten Bischöfen, kaum wichtige Reformimpulse zu erwarten sind, müssen die Reformen »von unten« erkämpft werden, mit Energie, Ausdauer und Augenmaß. Ein gutes Beispiel ist die österreichische »Pfarrerinitiative«, die 2006 vom früheren Wiener Generalvikar und Caritas-Direktor Mag. HELMUT SCHÜLLER der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Große Breitenwirkung erreicht die Initiative durch ihren »Aufruf zum Ungehorsam« vom 19. Juni 2011. Darin fordert die Pfarrerinitiative die Kommunion auch für wiederverheiratete Geschiedene, Mitglieder anderer Kirchen und Ausgetretene; weiter will man einen Wortgottesdienst mit Kommunionspendung künftig als »priesterlose Eucharistiefeier« ansehen und auch so nennen. Zudem will die Initiative »das Predigtverbot für kompetent ausgebildete Laien und Religionslehrerinnen missachten«. Man werde sich für Pfarrgemeindeleiter unabhängig von Geschlecht, Familienstand oder kirchlicher Anstellung sowie für die Zulassung von Frauen und Verheirateten zum Priesteramt einsetzen.
Weil sie die Not der Seelsorge aufgreift, wird die Pfarrerinitiative 2012 mit dem Herbert-Haag-Preis »Für Freiheit in der Kirche« ausgezeichnet. Im Februar 2012 zählt die Initiative fast 400 Priester und Diakone als Mitglieder und einen ständig wachsenden Kreis von über 2000 Laien, Männern und Frauen, als Unterstützer. Mit ihrem »Aufruf zum Ungehorsam« zeigt die Pfarrerinitiative zu Recht, dass Bischöfen dann kein Gehorsam geschuldet ist, wenn sie selbst wesentlichen Forderungen des Evangeliums ungehorsam geworden sind und die Aufrechterhaltung von Kirchengesetzen über das Wohl der Gemeinden und Seelsorger stellen. »Die Zeit der Resolutionen und Bittbriefe ist vorbei, das hat alles überhaupt nichts gebracht, es wurde alles ausgesessen« (»Der Spiegel«, Nr. 19, 2012).
Vor diesem Hintergrund schlage ich bei einem Podiumsgespräch bei der »Passauer Neuen Presse« (2011) in sieben Punkten Strategien für Reformen auf Orts- und Regionalebene öffentlich vor und finde dafür viel Zustimmung:
1. Möglichst viele Pfarrer und Diakone mögen sich als Gruppen oder als Einzelne der österreichischen Pfarrerinitiative anschließen.
2. In den Gemeinden mögen sich Reformgruppen von Frauen und Männern bilden, welche die Reformen auf Gemeindeebene vorantreiben.
3. Priesterlose Gemeinden sollen nicht nur Wortgottesdienst halten, sondern auch priesterlose Eucharistiefeiern: Die Kommunion soll erst nach dem von einem Vorbeter oder gemeinsam gesprochenen biblischen Abendmahlsbericht ausgeteilt werden.
4. Die Kirchenspaltungen zwischen katholischen und evangelischen Ortsgemeinden sollen aufgehoben und immer mehr gemeinsame Veranstaltungen und auch Gottesdienste gehalten werden.
5. In den diözesanen und nationalen Gremien sollen die Reformen auch deutlich an die Adresse der Bischöfe gerichtet werden; deren ständige Ausreden (»weltkirchliche Aufgabe«, »Rom«) können nicht mehr hingenommen werden.
6. Die Reformvorschläge aus Klerus und Volk sollen von den Bischöfen mit deutlicher Empfehlung an den Papst weitergereicht werden.
7. Das Internet soll zur Vernetzung der Kommunikation der Reformkräfte und zur Organisation gemeinsamer Aktionen genutzt werden.
Die meisten Bischöfe befleißigen sich
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