Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
persönlich von Hand adressierten Brief mit dem ungewöhnlichen Absender: »F., Domus Sanctae Marthae …« Hinter »F.« verbirgt sich kein Geringerer als Papst Franziskus. Er schreibt mir aus seiner schlichten Residenz im Gästehaus des Vatikans Santa Marta, wo er schon als Kardinal während des Konklaves gewohnt hatte: eine Briefkarte auf Spanisch, vom Papst eigenhändig adressiert.
Auf Deutsch heißt dies:
Vatikan, 26. 5. 13
Sehr geehrter Dr. Hans Küng,
ich habe Ihren Brief vom 13. des Monats erhalten mit einem Artikel und zwei Büchern, die ich gerne (»con gusto«) lesen werde. Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit.
Ich bleibe zu Ihrer Verfügung. Ich bitte Sie, beten Sie bitte für mich, denn ich habe es nötig.
Jesus möge Sie segnen und die Heilige Jungfrau Ihnen helfen.
Brüderlich,
Franziskus
Am meisten rührt mich die Unterschrift: ohne bischöfliches Kreuzlein vor dem Namen oder ein päpstliches PP nach dem Namen, ganz einfach und schlicht »Brüderlich, Franziskus«. Wahrhaftig kein päpstlicher, sondern ein brüderlicher Brief – ganz anders als alle bisherigen Papstbriefe, die ich erhalten habe. Für mich und für viele ist dies ein Hoffnungssignal.
Am 28. Juni 2013 danke ich dem Papst für die außerordentliche Freude, die er mir bereitet hat. Dieses Mal auf Deutsch, da er, wie ich gehört habe, sehr gut Deutsch versteht. Und weil sein Schreiben seine Person und sein Wollen so schön sichtbar macht, bitte ich ihn, dass ich seinen Brief in meinen Memoiren abdrucken darf.
Bei dieser Gelegenheit erzähle ich ihm noch von einer überraschenden positiven Erfahrung: »Ich habe bei der Revision meiner Erinnerungen meinen Offenen Brief an die Kardinäle vor dem Konklave 2005 wieder gelesen. Während mir bisher im Blick auf Ihren Vorgänger bittere Gedanken hochkamen, waren es diesmal Gefühle der Freude: Denn Sie entsprechen weithin den Kriterien, die ich damals für einen Papst der Zukunft aufgestellt habe. Gerne lege ich Ihnen den Text auf Deutsch und auf Italienisch bei. Daraus können Sie freilich auch ersehen, was an wichtigen Aufgaben tempore opportuno noch zu bewältigen wäre.«
Ich bin mir bewusst, dass dieser Brief auf eine spannungsgeladene Atmosphäre im Vatikan trifft. Denn in den selben Tagen wird ein hoher Prälat mit zwei Komplizen verhaftet, dem illegale Transaktionen in Millionenhöhe bei der Vatikanbank (IOR) vorgeworfen werden. Kurz darauf müssen der Generaldirektor der Bank und sein Vize zurücktreten. Papst Franziskus hatte schon vorher eine unabhängige Untersuchungskommission für die Vatikanbank eingesetzt. Viele Entscheidungen trifft er am kurialen Apparat vorbei. Alles Zeichen, dass der Papst den Worten Taten folgen lässt und offensichtlich zu echten Reformen entschlossen ist.
Mein Weltethos-Vermächtnis
Im Rahmen der Übergabe meiner Präsidentschaft der Stiftung Weltethos an EBERHARD STILZ , den Präsidenten des Staatsgerichtshofs von Baden-Württemberg, halte ich am 22. April 2013 an der Universität Tübingen meine »außenpolitische« Abschiedsrede für die unmittelbare Gegenwart und die Zukunft. Auch diese folgt hier im Wortlaut: 3
Der Satz des Schriftstellers MARK TWAIN zu Beginn einer historischen Vorlesung, der mir am 1. Juni 1960 zur Einleitung meiner ersten Vorlesung an der Universität Tübingen diente, möge auch diese meine möglicherweise letzte eröffnen: »Alexander der Große ist gestorben, Julius Cäsar ist gestorben, Napoleon ist gestorben – ich lebe noch, aber mir ist auch nicht ganz wohl.«
Sie, lieber Herr Rektor, Professores, Commilitones, Auditores, Amici aus nah und fern, meine Damen und Herren. Sie werden sich darüber im klaren sein, dass dieser Satz seinen Sinn für mich im Lauf von 53 Jahren gründlich verändert hat. Das »Mir ist auch nicht ganz wohl« hat im Mund eines 32-Jährigen einen amüsanten Klang – im Munde eines 85-Jährigen jedoch, bei dem das Alter seinen Tribut an Physis und Psyche fordert, hat es einen deutlich ernsten Unterton.
Doch damit am heutigen Abend keine bekümmert-trübselige Abschiedsstimmung aufkommt, habe ich mir zur Auflockerung Klezmer-Musik osteuropäischer Juden gewünscht. Ursprünglich zum Tanz bestimmt, vermag sie Liebe und Leid, Klage und überschäumende Freude auszudrücken. Herzlichen Dank schon jetzt meinerseits an die fabelhaften Musiker des David Orlowsky Trios.
Aber es geht an einem Tag wie diesem gar nicht um meine seelische
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