Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
theologische Sprache überhaupt, werden kaum noch verstanden.
– Der Zusammenbruch der regulären Seelsorge (Personalabbau, Auflösung von Pfarreien, Schließung von Kirchen) ist auf die Dauer weder durch kontraproduktive Pfarreifusionen noch durch Importpriester aus Polen, Afrika und Indien mit all ihren kulturellen und besonders sprachlichen Integrationsschwierigkeiten zu verschleiern.
– Die Macht des Papstes ist trotz seiner absolutistischen Machtansprüche faktisch vielfach beschränkt und kann sich, so klagt man in der Kurie, nach unten vielfach nicht mehr durchsetzen. Es fehlt an Glaubwürdigkeit. Auch Katholiken haben gelernt, nach ihrem Gewissen zu leben.
– Die katholische Kirche wird trotz päpstlicher Prachtdemonstrationen und Medienpräsenz noch mehr an realem öffentlichem Einfluss in Staat und Gesellschaft verlieren, wie sich dies besonders dramatisch in katholischen Ländern wie Spanien, Irland und Polen – von Frankreich ganz zu schweigen – zeigt.
– Trotz aller negativen Entwicklungen lässt sich der Geist des Vatikanum II nicht wieder in die römische Flasche zurückzwängen, und die reformorientierten Katholiken werden nicht aussterben, sondern weiterhin in vielen Pfarreien die Mehrheit bilden.
– »Von unten« lässt sich für einen guten Seelsorger mit einem Laienteam von Frauen und Männern durchaus auch ohne die Unterstützung »von oben« ein gesundes Gemeindeleben aufbauen: durch auch emotional ansprechende verständliche Liturgie, schrift- und zeitgemäße Verkündigung, spezielle Laiendienste für verschiedene Gruppen und Anliegen.
– Die Vision von Kirche vor Ort, welche die Polarisierung zwischen Konservativen und Fortschrittlichen zu überwinden und auch mit nicht-katholischen Gemeinden freundliche Beziehungen und praktische Zusammenarbeit zu unterhalten vermag, ist keine Illusion.
Nein, wir Reformbereiten und Ökumenischgesinnten stehen nicht auf verlorenem Posten – aber wir brauchen viel, viel Geduld. Nicht in der Form des trägen kurialen »Pensiamo in secoli – wir denken in Jahrhunderten«, sondern mit dem langen Atem und der starken Energie derer, die wissen, dass der Weg unüberschaubar und jedenfalls mühselig ist, aber um des Zieles willen das Gehen lohnt.
Als meine Hoffnungsvision stellt sich in den folgenden Jahren immer deutlicher heraus:
Spero unitatem ecclesiarum : Trotz aller römischen Restaurationsversuche und protestantischen und orthodoxen Reaktionen hoffe ich nach wie vor auf eine Einheit (in Vielfalt!) der Kirchen.
Spero pacem religionum : Trotz aller von beiden Seiten provozierten Spannungen und Auseinandersetzungen vor allem zwischen Christentum und Islam hoffe ich im Großen und Kleinen auf einen Frieden (nicht eine Einheit!) der Religionen.
Spero communitatem nationum : Trotz aller Rückfälle in das alte Paradigma politischer wie militärischer Konfrontation hoffe ich beständig auf eine wahre Gemeinschaft der Nationen (und nicht nur der EU).
Diese dreidimensionale Formulierung – ich liebe die knappe lateinische Version – fand ich schon in den 1980er-Jahren. Aber unterdessen konnte ich eine ganze Reihe von Vorstößen zur Realisierung und Aktualisierung dieses Programms unternehmen.
III. Vorstöße ins Neuland
»Was zurückliegt, vergesse ich und strecke mich aus nach dem, was vor mir liegt. Ich richte meinen Lauf auf das Ziel aus, um den Siegespreis zu erringen …«
Paulus an die Gemeinde von Philippi, 3,13f.
Wer »zu neuen Ufern« segelt, hofft auf »Land in Sicht«. Tatsächlich geht es ja in meiner neuen theologischen Phase um Vorstöße in neues Land, das es zu entdecken, zu erforschen, zu gewinnen gilt. Doch schon immer hatte es das Neue schwer in den Religionen, auch im Christentum. »Erneuerer« werden allzu oft gleichgesetzt mit Ketzern, Häretikern, und gelten lange Zeit als Feinde des wahren Glaubens, der Kirche und oft auch des Staates. Verführt durch den Teufel und den eigenen Zweifel, so die offizielle Ideologie, seien diese »Ungläubigen«, hartnäckig in Stolz und Starrsinn verharrend, zu Recht dem Verdammungsurteil verfallen, seien mit allen Mitteln zu verfolgen, zu diffamieren und zu liquidieren – wenn auch in neuerer Zeit nicht mehr physisch, so doch moralisch.
Doch will ich mich in diesem Kapitel nicht erneut mit der »Ketzergeschichte« katholischer und teilweise auch protestantischer Provenienz befassen. Mich interessiert – und dies ist das erste Problemfeld , dem ich mich zuwende –
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