Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
überfüllten Universitätskirche Great St. Mary’s, wo der berühmte Theologe JOHN HENRY NEWMAN , der später zur katholischen Kirche konvertierte, gewirkt hatte, meinen Vortrag zu halten. Seit 20 Jahren, sagt man mir, seien nicht mehr so viele Leute in der Kirche gewesen. Und das zum höchst elementaren Thema: »Does God exist?«. Noch wichtiger ist der Anlass am nächsten Tag, dem 18. November. Die große St. Paul’s Cathedral in London zu füllen ist nicht einfach. Aber 2000 Personen kommen, Durchschnittsalter 35, und hören gespannt zu.
Die in England erscheinende katholische Zeitschrift »The Tablet« fragt sich im Nachhinein, wie es denn zu einem solchen Zustrom von Leuten, Männern und Frauen, älteren und jüngeren, gekommen sei. Ihre Analyse ist genau und lohnt eine längere Dokumentation: »Wie kamen der Redner und diese Zuhörermassen zusammen? Es könnte sein, dass sie folgende Dinge gemeinsam haben: Unzufriedenheit mit anerkannten Formeln; Misstrauen gegenüber Indoktrinierung als Mittel religiösen Wachstums; das Bedürfnis, die Forderungen der Religion als aus ihnen selbst kommend zu erfahren; Desillusionierung über vieles in der Kirchengeschichte der Vergangenheit und Hoffnung trotz aller üblen Vorzeichen heutzutage. – An diesem Punkt unterscheiden sich die Massen und der einsame Redner, aber ergänzen einander auch. Die Massen sind sprachlos; er sicher nicht. Der bloße Umfang seiner literarischen Produktion könnte der eines Massenschriftstellers trotzen. Aber sein Schrifttum basiert auf tiefgründiger Forschung und ist so knifflig wie eine Operation in Transplantationschirurgie, denn es pflanzt eine neue Terminologie auf alte Denksysteme. Für einiges aus seinem Werk wurde er vom Heiligen Offizium (jetzt bekannt als Heilige Kongregation für die Glaubenslehre) verurteilt, und es wurde ihm verboten, als offizieller katholischer Theologe zu lehren. Niemand kann dagegen etwas haben innerhalb der Logik der Situation, und so etwas ist auch schon früher geschehen – unter anderen wurden Thomas von Aquin und Johannes vom Kreuz durch die Autoritäten in der einen oder anderen Form verurteilt. Diese Verurteilung bedeutet mit den Worten, wie sie von der Deutschen Bischofskonferenz wiederholt wurden: ›Er kann nicht länger als katholischer Theologe betrachtet werden noch als solcher eine Lehrtätigkeit ausüben.‹ Die Bischöfe fügten hinzu, dass die Zensurmaßnahme Prof. Küng nicht aus der Kirche ausschließe: ›Er bleibt Priester‹.«
Schon am nächsten Tag fliege ich erleichtert von London nach Stuttgart zurück und stehe am Tag darauf wieder, als wäre in der Zwischenzeit nichts geschehen, in Tübingen am Katheder, um meine Vorlesung über »Die Freiheit eines Christenmenschen« zu halten (20. 11. 1980). Nein, ich habe meine primären Pflichten in Tübingen, trotz aller großen Reisen, nie vernachlässigt. Am 16. 12. 1980 geht’s im Zug nach Frankfurt. Dort treffe ich Dr. Karl Klasen mit Dr. Stein von der Firma Bosch, der auch die Bosch-Stiftung vertritt. Gegenstand des wichtigen Gesprächs ist mein großes Forschungsprojekt, von dem noch ausführlich die Rede sein wird und für das ich mir Finanzierung durch die Bosch-Stiftung erhoffe. Zwei Tage später (18. 12.) halte ich planmäßig meine achte Vorlesung im Zyklus über die ökumenische Theologie, die nicht nur wegen des bevorstehenden Weihnachtsfestes, sondern auch wegen der offiziellen Diffamierung meiner Christologie der Frage gewidmet ist: »An einen Sohn Gottes glauben?«
Ich scheue mich nicht, zu dieser hochtheologischen Frage am nächsten Tag (19. 12.) auch in Zürich im Efficiency Club zu sprechen. Es geht hier nicht etwa um die Effizienz in der Theologie an sich, aber indirekt um die Frage, wie man heutzutage Theologie effizient betreiben kann. Mit einer von oben, sozusagen im Himmel der Dreifaltigkeit einsetzenden Dogmatik, wie sie in der Konfrontation die Hierarchen von mir erwarteten, wäre ich bei der Beantwortung dieser schwierigen Frage nicht nur bei Juden und Muslimen, sondern heutzutage auch bei Christen auf Schwierigkeiten gestoßen. Aber vom Neuen Testament her, verstanden im jüdischen Kontext, lässt sich auch einem weltlichen Publikum durchaus erklären, warum auf die geschichtliche Gestalt Jesus von Nazaret nach der Erfahrung seiner Auferweckung das Psalmwort angewendet wurde: »Es sprach der Herr zu meinem Herrn (dem König von Israel am Tage der Thronbesteigung): ›Mein Sohn‹ bist du;
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