Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
jahrhundertelange, mehrere Tausend Seiten in Latein und verschiedenen Volkssprachen füllende Diskussion aufgearbeitet hat. Sie versucht die immer wieder auftauchende Frage zu beantworten, ob es wirklich einen weiblichen Papst gegeben habe und worin der Skandal denn genau bestand.
Nun war ja tatsächlich durch die Jahrhunderte die Geschichte von einer Johanna, »Frau Jutte«, erzählt worden, die als Mann verkleidet in Athen studiert haben und ihrer großen Gelehrsamkeit wegen 855 zum Papst gewählt worden sein soll. Aber während einer Prozession sei sie niedergekommen und gestorben. Bis ins 15. Jahrhundert wurde die Päpstin allgemein als historisches Faktum genommen, doch seit der Reformation wird um ihre Historizität heftig gestritten.
Heute steht fest: Es handelt sich um eine Legende, die vermutlich auf eine antike Priesterstatue mit Knaben in Rom zurückgeht, die aufgrund einer in der Nähe gefundenen Inschrift als Päpstin mit Kind gedeutet wurde. Erste Hinweise auf diese Legende gibt es tatsächlich erst seit dem 12./13. Jahrhundert. Vor allem von Dominikanern und Franziskanern, aber auch von Schriftstellern wie Boccaccio und Petrarca wurde sie verbreitet. Doch so verschieden ihre Interpretationen auch sind, allesamt stimmen sie überein in der negativen Wertung: Eine Päpstin ist, beziehungsweise wäre schrecklich! Der Skandal lag im Frausein!
Man darf ja nicht vergessen, dass es lange Zeit eine kirchliche Gesetzgebung gab, die nicht nur die Priesterweihe für Frauen verbot, sondern es sogar als fluchwürdig verdammte, dass Äbtissinnen ihre Nonnen segnen und ihre Beichte hören, ja sich vermessen, das Evangelium zu lesen und öffentlich zu predigen. Nicht einmal die heiligen Gefäße sollten sie berühren oder den Altar mit Weihrauch versehen. Ja, nach dieser Auffassung ist das gesamte weibliche Geschlecht zum ordinierten Amt unfähig. Und noch am Ende des 20. Jahrhunderts hat der Vatikan weibliche Ministranten verboten, scheiterte aber am heftigen Widerstand der katholischen Bevölkerung und ihrer Seelsorger.
Vor diesem Hintergrund kann man verstehen, dass eine Frau auf dem Papstthron geradezu als »Missgeburt« oder »Monstrum« bezeichnet werden kann. Mit allen möglichen Schimpfworten wird sie bedacht, ja, durch all die Jahrhunderte wird sie in allen Parteien, ob Dominikaner oder Franziskaner, ob Säkulare oder auch Lutheraner, als Schande für die Kirche angesehen. Diese frauenfeindliche Begründungs- und Legitimationspraxis der Tradition müsste nach Elisabeth Gössmann, die noch bei Joseph Ratzinger Theologie studiert hatte, kritisch aufgearbeitet werden, wenn man die umstrittenen Fragen des Eheverbots für Priester und der Frauenordination endlich positiv beantworten wolle. Doch wie konnte man noch 2010 auf einer offenen Podiumsdiskussion in der Tübinger St. Johannes-Pfarrei hören: »Die katholische Kirche ist eine von Frauen getragene und von Männern in Frauenkleidern geleitete Institution.«
Neuere Untersuchungen bestätigen die grundlegende Studie Elisabeth Gössmanns. So die beiden Mediaevisten Klaus Herbers (Erlangen) und Max Kerner (Aachen): »Die Päpstin Johanna des 9. Jahrhunderts gibt es nicht, aber sie existierte und existiert als Wunsch- oder Gegenbild, fasste Kritik an der Kurie, an männlicher Dominanz, an Entscheidungen der römischen Kirche zusammen, in ihrer Person bündelten sich auch Vorstellungen von weiblichen Fähigkeiten. Insofern sind eine Biographie ihrer Legende oder die zahlreichen mythologischen Überhöhungen dazu angetan, die Bedürfnisse und die sich wandelnden Sehnsüchte und Kritikpunkte zu verdeutlichen.« 4
Pilotprojekt III: Theologie und Literatur
Ich hatte schon immer eine Leidenschaft für die deutschsprachige Literatur, und zugleich zu wenig Zeit, um ihr zu frönen. Der Unterricht in Literaturgeschichte, den ich am Gymnasium in Luzern genoss, besaß außerordentliche Qualität, führte in die verschiedenen Epochen und Tendenzen ein und stellte uns auch die repräsentativen Figuren der Prosa, des Dramas und der Lyrik vor Augen. Und die ersten »Gesammelten Werke«, die ich mir nach und nach abhungerte (statt das von meinem Papa für das Mittagessen in Luzern erhaltene Geld in einem Restaurant auszugeben), waren drei Bände der Werke Friedrich Schillers (von mir als Kaufdatum markiert: »Feb. 1944«).
Meine Bibliothek der Klassiker deutscher Literatur, für die ich so als Sechzehnjähriger den Grundstein legte, ist im Lauf der Jahre wie die der
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