Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Klassiker der Philosophie und Theologie ziemlich umfassend geworden, sodass ich nur für Spezialliteratur auf andere Bibliotheken angewiesen bin. Doch bilden die Literaten bei mir keine eigene Abteilung, sondern sind chronologisch in die verschiedenen Epochen der Philosophie-, Theologie- und Geistesgeschichte eingeordnet, später noch erweitert durch die großen Klassiker auch anderer Völker: die griechischen Tragödien, die französischen Dramatiker, Shakespeares Dramen, die Romane Tolstois und Dostojewskis und die zeitgenössischen Schriftsteller. Aber in meiner Gymnasialzeit besaß für mich die Arbeit in der katholischen Jugendbewegung doch das Übergewicht. Und während manche meiner Klassenkameraden schon mit Kenntnissen von Thomas Manns Werken glänzten, opferte ich einen Großteil meiner Freizeit für Gruppenstunden, Geländespiele, Ferienlager … Und habe es nicht bedauert.
In meinen römischen Philosophiejahren lese ich natürlich mit mehr Vergnügen die Dramen JEAN-PAUL SARTRES als sein philosophisches Hauptwerk »L’être et le néant (Das Sein und das Nichts)«. Doch meine Studien standen unter dem Wort: »Erst die Arbeit und dann das Vergnügen«. Und mich durch das gewaltige Œuvre eines KARL BARTH oder eines HEGEL hindurchzukämpfen war geistige Schwerstarbeit durch mehrere Jahre. Während mir Karl Barths Deutsch im Vergleich zu dem sterilen neuscholastischen Latein römischer Vorlesungen und Lehrbücher ausgesprochen Vergnügen bereitete, so Hegels Philosophendeutsch oft Kopfschmerzen. Wer meint, dies sei ein Scherz, lese einmal seine »Phänomenologie des Geistes« von der großartigen Vorrede »Vom wissenschaftlichen Erkennen« bis zu den letzten Seiten über »Das absolute Wissen«. Die Sprache der deutschen Philosophen (und Theologen) – gemessen an Meistern der Sprache (und ihrer verschiedenen Genera bis hin zur Polemik) wie LESSING und HEINE , von Franzosen und Engländern ganz zu schweigen – ist wenig geschliffen, unnötig kompliziert, oft spröde und manchmal gar langweilig; SCHOPENHAUER und NIETZSCHE sind unter den Philosophen die großen Ausnahmen. Beide sind auch glänzende Stilisten.
Vor diesem Hintergrund wird man leicht verstehen, warum ich in meiner neuen Tübinger Freiheit große Lust verspüre, meiner frühen Leidenschaft nachzugehen und jetzt, sozusagen im Zenit des Lebens mit viel geschichtlichem Wissen im Gepäck, mich neu der Literatur zuzuwenden: ein drittes neues Problemfeld nach und neben Wissenschaftstheorie und Frauenforschung.
Jesus in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart
Immer war ich darauf bedacht, meine Grenzen zu kennen und, wo ich sie überwinden wollte, die Hilfe anderer zu suchen. Es war mir völlig klar, dass ich, wenn ich mich ernsthaft mit Literatur nicht nur privat beschäftigen, sondern im Hörsaal auseinandersetzen wollte, eines Helfers und eines Partners bedürfte. Beides wurde mir geschenkt.
Eine der schönsten Erfahrungen eines akademischen Lehrers, besonders wenn er sich in ständigen öffentlichen Auseinandersetzungen befindet, ist es, wenn er das geistige Wachsen eines Schülers beobachten kann, der sich vom »Lehrling« über den »Gesellen« langsam zum »Meister« entwickelt. Diese Freude erlebe ich mit KARL-JOSEF KUSCHEL , der als »typischer 68er« nach Tübingen gekommen war, sich dann aber in unserem Institut als wissenschaftliche Hilfskraft hervorragend bewährt und ein sehr gutes Examen in Theologie und Germanistik absolviert. Daher halte ich ihn auch für fähig, Doktorand bei mir zu werden und ein höchst anspruchsvolles Thema zu bearbeiten: »Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«. In der neuesten, sehr breit gefächerten Gegenwartsliteratur kenne ich mich jedoch relativ wenig aus. Da bin ich zur Betreuung auf einen Partner angewiesen. WALTER JENS , Professor für Allgemeine Rhetorik, ist als Literat und Literaturwissenschaftler eine außerordentliche Gestalt. Gerne ist er bereit, mit mir zusammen die Betreuung dieser Dissertation zu übernehmen.
Karl-Josef Kuschel wird so schon in den letzten Phasen von »Christ sein« mein enger Mitarbeiter; ohne die Anregungen von Walter Jens und die Informationen von Karl-Josef Kuschel, auf dessen Dissertation ich damals schon hinweisen konnte, hätte ich den Abschnitt über den »Jesus der Literaten« in »Christ sein« nicht so konkret und detailliert abfassen können. Oft beneide ich ihn, da er sich, wie ich ihm manchmal scherzhaft sage, mit »Belletristik«
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