Erloschen
dass die beiden anderen davon nichts mitbekommen hatten. »Aber das hier ist keine Pennerin.« Sie wies auf die Füße der Frau. »Nicht mit der Pediküre. Und ihr Gesicht so zuzurichten dürfte eine Weile gedauert haben. Das hätte jemand gesehen oder gehört.«
»Und dass jemand eine Leiche hierher schleift und ablegt, hätte keiner gehört?« Ivan grunzte ungläubig.
»Das musste der Mörder gar nicht. Er fährt mit dem Wagen bis zum Container, öffnet den Kofferraum, hebt sie raus und lässt sie fallen.« Sie rieb die Hände aneinander. »Fünf, maximal zehn Minuten, das erregt kein großes Aufsehen. Dann fährt er auf der anderen Seite aus der Gasse und ist weg.«
Tully nickte. In Momenten wie diesem wusste er Racines punktgenaue Theorien zu schätzen. Neben ihnen nahmen sich Ivans träge, analytische Denkprozesse so bizarr aus wie der Mann selbst. Manchmal war es schlicht praktischer, die Dinge beim Namen zu nennen, egal wie viele Untersuchungen, Fallstudien und Statistiken man kannte.
Ivan legte eine Hand an sein Kinn – noch so eine Macke, die Tullys Geduld auf die Probe stellte – das kantige Kinn schmiegte sich perfekt in die Faust mit dem ausgestreckten Zeigefinger. Er sagte nichts; nickte nicht einmal.
»Ein paar von den Uniformierten reden schon mit denen, die hier ständig rumlungern.« Racine wartete nicht auf Zustimmung, denn es kümmerte sie nicht, was Ivan dachte.
»Meinen Sie, die erzählen uns was?«, fragte Tully.
»Die, die nicht zu besoffen oder zu high sind, schon. Diese Gassen hier sind ihr Zuhause. So komisch es sich anhören mag: Es ist nicht so leicht für sie, sich einen neuen Platz zu suchen. Die Innenstadt ist überfüllt, und die Geschäfte dort laufen schlecht. Hier ist die Martin Luther King Jr. Memorial Library in der Nähe. Und dort halten die Busse.«
»Busse?«, fragte Ivan.
»Die Stadt betreibt einen kostenlosen Shuttle-Dienst für Obdachlose.«
»Das ist ein Scherz.«
»Die meisten Suppenküchen und Sozialdienstbüros sind noch in der Innenstadt, und bis dahin sind es fünf Meilen Fußmarsch. Als die Stadt einige der Obdach losenunterkünfte hierher verlegte, führten sie die Busse ein, weil man so weit draußen keine Gratismahlzeit kriegt.«
»Also pilgern sie zum Schlafen in dieses Viertel und zurück in die Stadt, wenn sie was zu essen brauchen?« Tully schüttelte den Kopf. Solch eine absurde Regelung konnte es auch nur in der Hauptstadt geben. Er dachte daran, dass ihm in seinem Trenchcoat zu kalt gewesen war, obwohl sie einen ungewöhnlich milden Februar hatten. Unvorstellbar, die Nächte auf der Straße verbringen zu müssen.
»Die Obdachlosen müssen demnach richtig arbeiten, um obdachlos zu bleiben, was?« Ivan grinste tatsächlich.
Tully und Racine nicht.
Was dem ATF -Ermittler nicht auffiel, denn er fuhr fort: »Damit wäre Ihre Theorie hinfällig. Wenn alle in Obdachlosenunterkünften schlafen, hat auch niemand etwas in dieser Gasse gehört.«
»Eben nicht«, widersprach Racine ungerührt. »Es gibt nicht annähernd genug Schlafplätze. Fahren Sie mal nachts um zwei durch die Straßen hier, dann sehen Sie, wovon ich rede. Etwa einen Block entfernt wird eine neue Unterkunft gebaut, aber die ist erst in Monaten fertig.«
»Bin ich froh, dass ich in Virginia wohne«, sagte Ivan. »Ich muss mich jetzt drinnen umsehen. Und Sie dürfen hier mit Ihrer Arbeit anfangen.«
Weiter reichte Ivans Interesse nicht. Ihm ging es um das Feuer und wie es angefangen hatte. Das war sein Job. Leichen waren unerfreulich, eine Last, besonders solche, die nicht zum Gebäude oder zum Brand gehörten. Leichen waren Tullys und Racines Job.
Ohne ein weiteres Wort wandte Ivan sich ab und schlenderte langsam und nachdenklich die Gasse hinunter.Tully sah Racine an. Er wusste im Voraus, dass sie die Augen verdrehen würde, musste aber trotzdem schmunzeln, als sie es tat.
»Dieser Kerl ist unheimlich. Wo hat die ATF den eigent lich ausgegraben?«
Nachdem Ivan fort war, ging Racine näher zu dem Opfer, um es sich anzusehen. Tully zog sich ein Paar Schuhschützer über und folgte ihr. Die Latexhandschuhe ließ er in der Tasche.
Die Frau lag auf einem Haufen Müll, der es nicht bis in den Container geschafft hatte. Ihre Arme lagen unter ihrem Oberkörper, die Beine waren unordentlich überkreuzt. Er dachte über Racines Theorie nach. Die Leichenstarre setzte in den ersten zwölf bis sechsunddreißig Stunden nach dem Tod ein, aber den meisten Leuten war nicht klar, dass der
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