Erlosung
beschlugen von innen, und Lazare, der nach einer Pause unterwegs das Steuer übernommen hatte, wischte alle paar Minuten mit der Hand über das Glas, damit er etwas sehen konnte.
Es herrschte bereits dichter Verkehr, und wegen des Regens fuhren die Autos langsam und schoben sich mit flackernden Rücklichtern auf dem Autobahnring um die Stadt. Ella war noch immer müde, obwohl sie hinter Chartres auf einem Rastplatz zwei Stunden im Wagen geschlafen hatten. Die Stelle, wo die Kugel sie gestreift hatte, war ein kalter, harter Punkt über ihrem Hüftknochen geworden.
An der Ausfahrt Neuilly-sur-Seine verlieà Lazare den Ring und sagte: »Die Hauptversammlung beginnt um zehn Uhr. Ich fahre jetzt zur Zentrale meiner Bank, um zu duschen und mir ein paar frische Sachen anzuziehen. Niemand rechnet mit mir. Ich habe einen privaten Aufzug in mein Büro. Die anderen Vorstände werden erst im letzten Augenblick über meine Anwesenheit informiert, deswegen wird der Ablauf der Versammlung dann spontan geändert, um Insidergeschäfte zu vermeiden. Die
Aktien meiner Bank sind in den letzten Tagen nach meinem Verschwinden dramatisch gefallen, und wenn ich plötzlich auf der Bühne des Centre de Congrès erscheine, wird das eine ebenso dramatische Hausse nach sich ziehen.«
»Vorausgesetzt, Sie werden da oben nicht doch zum Märtyrer«, warf Annika ein, »freiwillig oder unfreiwillig.«
»Ich werde mich die ganze Zeit in Deckung halten«, erklärte Lazare. »Ich werde allein mit der Metro fahren und das Gebäude durch den Lieferanteneingang betreten. Von da lasse ich mich sofort durch die Garderobe auf die Bühne schleusen â «
»Von wem?«, fragte Ella. »Wem können Sie vertrauen?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
Es gibt niemanden, dachte Ella. »Wann wird das sein?«
»Um halb elf, gleich nach der Eröffnung durch den Versammlungsleiter«, sagte Lazare. »Wegen meines Verschwindens ist anstelle der Rede des Vorstandsvorsitzenden eine Ansprache meines Stellvertreters geplant, die ich nun aber selbst halten werde. Im Anschluss daran soll die Generaldebatte folgen, zu der es aber nicht mehr kommen wird. Die ganze Versammlung wird live im Internet und auf Bloomberg TV übertragen. AuÃerdem gibt es im Saal mehrere Kameras und Mikrofone für die Bildübertragung auf die Bühnenleinwand hinter dem Vorstandstisch und die Monitore im Versammlungsgebäude.« Er blinzelte und rieb sich die Augen. »Sobald ich ausgestiegen bin, können Sie mit dem Wagen â «
»Ich komme mit Ihnen«, sagte Ella.
»Nein.« Lazare wedelte mit einem abwehrend vom Lenkrad gehobenen Zeigefinger. »Wir dürfen auf keinen Fall zusammen gesehen werden, das ist viel zu gefährlich, für Sie und für mich. Sie dürfen nicht mal in meiner Nähe sein. AuÃerdem bräuchten Sie eine Eintrittskarte oder aber eine Abstimmungsvollmacht, die auf Ihren Namen von einem bereits früher gegangenen Aktionär an der Ausgangskontrolle hinterlegt worden ist.«
»Ich hätte gern so eine Vollmacht«, sagte Annika. »Egal von wem. Einer von uns sollte an der Versammlung teilnehmen. Das haben wir uns verdient, finden Sie nicht?«
Lazare überlegte. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber beim Abholen müssen Sie sich ausweisen, und inzwischen kennen die wahrscheinlich längst auch Ihren Namen.«
»Roberta Flack«, sagte Annika.
Ella sah sie von der einen Seite an, Lazare von der anderen. Sie wandte sich Ella zu und erklärte: »Eine Zeit lang hat Patrick mich nach unserer Trennung von seinen Kollegen bespitzeln lassen. Ich habe mir von einem meiner Patienten einen zweiten Ausweis machen lassen, damit mein Name nicht sofort in deren Computersystem auftaucht, falls ich mal kontrolliert werde oder mir irgendwas zustöÃt. Ich wollte nicht, dass er plötzlich nach einem Anfall im Krankenhaus auftaucht. Oder mich auf einem Polizeirevier besucht. Oder nach einer Grenzkontrolle weiÃ, wohin ich gereist bin.« Sie drehte sich zu Lazare um. »Auf diesen Namen sollte die Vollmacht lauten â Roberta Flack, wie die Sängerin von Killing me Softly .«
Es regnete, und der Himmel war niedrig und grau, als der Bankier ein paar StraÃen von seiner Zentrale entfernt hielt. Er blieb noch einen Moment im Wagen sitzen, beide Hände auf dem Lenkrad. »Als mein Neffe Rémy acht Jahre alt war,
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