Ermittler in Weiß - Tote sagen aus
unangenehmen Überraschungen rechnen musste, lehnte ich zunächst ab. Daraufhin schlug die unbekannte Gesprächspartnerin vor, mich noch am gleichen Abend in meiner Wohnung aufzusuchen. Ich stimmte zu und kurze Zeit später klingelte es an der Wohnungstür. Die junge Frau stellte sich vor und eröffnete mir zu meiner großen Überraschung, dass sie mir etwas von Prof. Voigt auszurichten hätte, dem sie in Westberlin in einem Flüchtlingslager begegnet sei. Er habe gestern Abend mit seiner Sekretärin aus Angst, von der Staatssicherheit abgeholt zu werden, Jena verlassen. Wie ich erfuhr, war der Grund für diese Angst eine Meldung im RIAS, dem Rundfunk im amerikanischen Sektor, wonach ein Chemiker aus dem Jenaer Ge- richtsmedizinischen Institut mit sehr brisantem Material in den Westen geflohen sei. Es handele sich um Sektionsprotokolle von Leichen, die durch Angehörige der russischen Besatzungsmacht zu Tode gekommen seien. Diese Nachricht erwies sich insofern als zutreffend, da tatsächlich ein Chemiker des Institutes in die Bundesrepublik 'geflohen war und offenbar auch einige Sektionsprotokolle der genannten Art mitgenommen hatte. Alle Sektionsprotokolle von Vorgängen, an denen Russen beteiligt waren, wanderten nämlich - angeblich aus Sicherheitsgründen - nicht in die allgemeine Ablage, sondern wurden gesondert in einem Stahlschrank verschlossen. Und von diesen Protokollen fehlten einige. Obwohl Dr. Voigt erst vor kurzem zum Professor für Gerichtliche Medizin berufen und zum Direktor des Institutes ernannt worden war, somit eine aussichtsreiche Laufbahn in Jena vor sich hatte, war die Angst der beiden und ihre Reaktion in der damaligen Situation durchaus verständlich. Die junge Dame übermittelte mir außerdem die Bitte Prof. Voigts, seine persönlichen Unterlagen wie Approbations-, Pro-motions- und Habilitationsurkunde sowie die Berufungsurkunden aus dem Institut zu holen und zunächst sicherzustellen, da er in der Eile und Aufregung vergessen hatte, sie mitzunehmen. Als ich am nächsten Tag den kommissarischen Direktor des Pathologischen Instituts, einem guten Bekannten von Prof. Voigt, die Situation erläuterte, erklärte er sich sofort bereit, mit mir nach Dienstschluss die Gerichtsmedizin aufzusuchen und die Unterlagen zu holen. Bevor wir beim Hausmeister klingelten, schlichen wir erst einige Male um das Institut, um zu sehen, ob es bewacht würde. Wir hielten es durchaus für möglich, dass die Staatssicherheit bereits am Tage im Institut gewesen sein könnte und die Dokumente beschlagnahmt hätte. Aber unsere Befürchtungen waren unbegründet. Der Hausmeister ließ uns ohne Probleme ein, und wir konnten die Unterlagen holen. Vom Weggang des Chefs war im Institut offenbar noch nichts bekannt. Auch später hat weder im Institut noch in der Wohnung von Prof. Voigt eine Durchsuchung stattgefunden. Auch eine Befragung der Mitarbeiter durch die Staatssicherheit ist nicht erfolgt. Am übernächsten Tag wurde ich von einem Mitarbeiter der Gerichtsmedizin angerufen und gefragt, ob ich wüsste, wo ihr Chef sei. Dieser wäre seit zwei Tagen nicht im Institut erschienen und auch nicht zu erreichen. Die Anforderungen von Sektionen häuften sich immer mehr. Wenig später rief auch das Dekanat an und bat mich, in der Gerichtsmedizin zunächst einmal nach dem Rechten zu sehen und mich um die gerichtlichen Sektionen zu kümmern. Inzwischen war auch durchgesickert, dass Prof. Voigt und seine Sekretärin die DDR verlassen hatten. Mein Chef in der Universitätsnervenklinik wurde vom Dekan gebeten, mich für die Aufgaben in der Gerichtsmedizin vorübergehend freizustellen. Ich ging also ins Institut und stellte fest, dass über zehn Sektionsanmeldungen aus ganz Thüringen vorlagen. Diese Anforderungen arbeiteten wir so schnell wie möglich ab, aber es gingen immer neue Aufträge ein. Fast hatte es den Anschein, als wüssten die Staatsanwaltschaften von unserer Notlage und wollten uns ärgern. Auch die Aufträge für Blutalkoholbestimmungen stapelten sich und warteten auf ihre Bearbeitung. So war mit meiner Freistellung für zunächst eine Woche nicht viel erreicht. Fast alle Sektionen waren Außensektionen. Wenn diese auf der anderen Seite des Thüringer Waldes oder im Harz anstanden, ging fast immer ein ganzer Tag drauf. Nebenher sollte ich noch meine beiden Stationen in der Nervenklinik versorgen. Das ging nur gut, weil ich dort noch einen ärztlichen Mitarbeiter hatte. Ein Dauerzustand konnte das aber nicht sein. Es
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