Ermittler in Weiß - Tote sagen aus
Gehirns fortfuhr, sah ich plötzlich das Projektil immer noch auf dem Sektionstisch liegen. Augenblicklich rügte ich meinen Gehilfen, weil er nicht sorgfältig mit einem so wichtigen Spurenträger umgegangen sei. Er versicherte mir aber, dass er das Projektil ordnungsgemäß in einem Glasröhrchen gesichert habe, und holte zum Beweis das Röhrchen aus unserem Asservaten-Koffer. Tatsächlich, das Projektil befand sich darin, und dennoch lag ein zweites Projektil auf dem Tisch, obwohl nur eine Einschussöffnung und ein Schusskanal vorhanden waren. Auch mit einer Schnellfeuerwaffe - geschweige denn mit einer Pistole - wird kaum mit dem zweiten Schuss in die gleiche Einschussöffnung getroffen. Wo kam das zweite Projektil her? Es gab unter Berücksichtigung der Gegebenheiten nur eine Erklärung dafür: Mit einer Patrone waren zwei Projektile verschossen worden. Der Schütze musste zunächst ein von der Hülse mit Treibladung isoliertes Projektil in den Lauf geschoben und dann mit einer kompletten Patrone nachgeladen haben. Wahrscheinlich glaubte er, so die Schusswirkung zu verstärken. Aber das Gegenteil war der Fall. Eine Treibladung musste zwei Projektile durch den Lauf pressen, wobei sich das hintere Projektil noch in den Bleikern des ersten Geschosses bohrte und dieses auseinander trieb, sodass die Reibung zwischen Geschosswand und Lauf größer wurde. Tatsächlich wies das eine Projektil eine solche Einbohrung und Auseinandertreibung auf, während das andere eine Abflachung und einen Eindruck an der Geschossspitze zeigte. Beides passte ganz genau ineinander. Noch während der Sektion wurde die Wohnung des Toten bzw. sein Zimmer durchsucht. Man fand dort mehrere Geschosse, bei denen das Projektil von den Patronenhülsen getrennt und das Pulver entfernt worden war. Alfred R. hatte also die Manipulation an der Munition, die erklärte, warum trotz Nahschuss nur ein Steckschuss zustande kam, selbst vorgenommen. Damit sprach alles für einen Selbstmord. Dieses Ermittlungsergebnis verlangte aber eine Antwort auf die Frage, ob man sich selbst in den Nacken schießen kann. Die weiteren Untersuchungen zeigten, dass diese Möglichkeit besteht, wenn man den Lauf mit einer Hand führt und mit der anderen Hand abdrückt. Im Labor wurde diese Feststellung später endgültig bestätigt. Wir stießen an beiden Händen auf deutliche Schmauchspuren, die bezüglich ihrer Anordnung durchaus zu der Annahme passten, dass die Waffe am Lauf mit der linken Hand geführt und mit der rechten abgedrückt worden war. Es handelte sich demnach um einen Selbstmord, wahrscheinlich aus Liebeskummer. Sicherlich hatte der am Silvesterabend reichlich genossene Alkohol eine Rolle beim Entschluss zur Selbsttötung gespielt. Klaus M. wurde unmittelbar nach der Sektion wieder auf freien Fuß gesetzt. Mord auf der Straße Der Frühling meldete sich langsam an, die ersten warmen Tage hatten zarte grüne Knospen an Bäumen und Sträuchern sprießen lassen. Einige Frühjahrsblüher steckten auch schon ihre Blüten vorsichtig aus der Erde. Aber es war ein Tag im April mit dem typischen Aprilwetter: Mal schien für kurze Zeit die Sonne, mal fegten Sturmböen und Regenschauer über das Land. Im Institut herrschte Ruhe, Sektionen waren nicht angemeldet. Man konnte das, was in der letzten Zeit liegen geblieben war, in Ruhe aufarbeiten. Ich saß im histologischen Labor und schaute mir mikroskopische Präparate von zwei Fällen der vergangenen Woche an Den einen Fall konnte ich schon bald zur Seite legen, da Befunde und Diagnose klar waren. Als ich mir die Präparate des zweiten Falles holen wollte, kam die Sekretärin ins Labor »Herr Oberarzt, da ist der Leiter der Mordkommission am Apparat. Er will Sie persönlich sprechen. Es sei wichtig.« Da wir im histologischen Labor kein Telefon hatten, ging ich ins Sekretariat und nahm den Hörer auf: »Hier ist Hauptmann S., wir haben einen sehr eiligen Fall, und es ist wichtig, dass die Sektion noch heute durchgeführt wird. Ich weiß, dass es schon relativ spät ist, aber es ist wirklich wichtig. Kommen Sie noch heute.« Ich schaute auf die Uhr. Es war schon nach drei Uhr am Nachmittag. Die Vorbereitungen und die Fahrzeit kalkulierend sagte ich dann zu, dass wir in etwa zwei Stunden da seien. Meine Sekretärin und der Sektionsgehilfe waren von der Aussicht, heute noch eine Außensektion durchführen zu müssen, nicht sehr begeistert. Aber was half es, wenn es notwendig war, musste eben der Abend geopfert werden. Dem
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