Ermittlerpaar Moretti und Roland 02 - Suendenspiel
besuchen und einiges wiederholen.
»Das ist klar«, sagte der Arzt.
»Wann haben Sie Ihren Vater das letzte Mal gesehen?«, fragte Roland.
»Freitagnachmittag«, antwortete Safet leise.
Roland nahm sein Notizbuch heraus und schrieb.
Irgendwie passte das nicht zusammen, dachte Liv. Heute war Samstag, und der Leichnam war Mittwoch gefunden worden?
»Gestern?«, fragte Roland. »Sie haben ihn gestern gesehen?«
»Nein, vergangenen Freitag. Am sechsten.«
»Aber das ist ja mehr als eine Woche her?«
Safet antwortete nicht.
»Sie haben Ihren Vater mehr als eine Woche lang nicht gesehen?«, übernahm Liv.
»Er war auf einer Konferenz«, mischte sich Doktor Andersen ein.
»Einem Ärztekongress?«, fragte Roland.
»Ja.«
»Ist er allein gefahren?«, fragte er, jetzt wieder an den Jungen gewandt.
Roland blickte auf seinen Notizblock und tat so, als würde er etwas Wichtiges aufschreiben.
Safet nickte.
»Es hat ihn niemand begleitet? Keine Lebensgefährtin, keine Kollegen?«
Safet schüttelte den Kopf.
»Nein.«
»Wissen Sie, wo diese Konferenz war?«, fragte Liv.
»In Kolding«, antwortete Safet mit großer Überzeugung.
Bingo, dachte Liv, während Roland notierte.
»Wie haben Sie das in den letzten Tagen mit dem Essen geregelt? Der Kühlschrank ist voll«, fragte sie.
»Wir haben eine Haushaltshilfe, die jeden Tag kommt«, sagte Safet. »Die kauft ein und macht sauber.«
Auch Liv machte sich jetzt Notizen. Das erklärte, warum das Haus so sauber und ordentlich wirkte.
»Wir werden auch mit ihr reden müssen.«
»Ja, ja, das ist kein Problem, sie kommt nächsten Montag wieder.«
»Ich meine, dass ich Sie darum bitten muss, mir ihre Telefonnummer zu geben.«
Der Junge sah plötzlich verwirrt aus. Als wäre ihm gerade etwas eingefallen.
»Ich weiß nicht … ich glaube, ich habe ihre Nummer nicht.«
Er sah zu Doktor Andersen, als suchte er seine Erlaubnis, die Nummer der Haushaltshilfe herauszugeben.
Roland beugte sich vor.
»Hören Sie. Es ist uns egal, ob sie schwarz arbeitet. Das ist nicht unsere Abteilung«, sagte er und lächelte väterlich. »Wir sind nur für die Lösung von Mordfällen zuständig.«
»Ja, natürlich.«
Safet nickte.
»Sie sagen, Sie hätten Ihren Vater seit Freitag letzter Woche nicht mehr gesehen? Erinnern Sie sich noch an Details von dem Abend? Was haben Sie gemacht?«
»Nachmittag.«
»Gut, dann Freitagnachmittag«, korrigierte Roland.
»Wir haben nicht viel gemacht. Ich war früh aus der Schule zurück.«
»Sie gehen aufs Gymnasium?«, fragte Liv und zeigte auf den Tisch. Darauf lag ein aufgeschlagenes Lehrbuch.
»Ja, ich bin in der vorletzten Klasse auf der Statsskole Sønderborg.«
Liv nahm das Buch in die Hand.
»Homers Ilias«, sagte sie und erinnerte sich einen Moment lang an ihre eigene Schulzeit. Keine sonderlich gute Erinnerung, aber eben doch eine Erinnerung.
»Ich schreibe ein Referat darüber«, sagte Safet und nahm ihr das Buch aus der Hand, als fürchtete er, sie könnte es kaputt machen. Dann erklärte er, dass er in diesem Referat über den Pferdebezwinger Hector und den schnellen Läufer Achilles schreiben und ihre Unterschiede herausarbeiten wolle.
»Außerdem gehe ich auf die Verhältnisse zwischen Göttern und Menschen ein sowie auf ihre gemeinsamen Werte, insbesondere auf Ehre und Stolz. Ein anderer Aspekt meiner Arbeit widmet sich den sprachlichen Gestaltungsmitteln, die Homer einsetzt, dem heterodiegetischen Erzählstil und der tragischen Ironie.«
Liv sah zu Roland.
»Was meinst du? Ich erinnere mich vor allem an Hybris und Nemesis.«
Safet sah sie an.
»Die ewige Frage nach dem freien Willen des Menschen und seinem Schicksalsglauben. In der Literatur werden die Begriffe Hybris und Nemesis nur von den Griechen Herodot und Aischylos benutzt. Homer verwendet sie auch in der Odyssee, aber in der Ilias kommen sie konkret nicht vor, was sicher daran liegt, dass Homers Gottesbild anthropomorph ist.«
Liv gab ein Pfeifen von sich.
»Er gibt ihnen menschliche Eigenschaften. Beeindruckend. Sind Sie gut in der Schule?«
»Es gefällt mir, etwas zu lernen.«
»Ein Intellektueller«, kommentierte Roland ohne Begeisterung. »Aber warum kamen Sie so früh nach Hause?«, fragte er, um das Gespräch wieder auf den Fall zu lenken.
Mit Erfolg. Die Augen des Jungen waren mit einem Mal wieder mutlos, aber er antwortete nicht.
»Haben Sie geschwänzt?«
»Kann schon sein.«
Roland fragte das eigentlich nur, um ihn herauszufordern. Liv kannte
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