Ernst Bienzle 14 - Bienzle und die lange Wut
wählte seine Mailbox an.
Als er zehn Minuten später frisch rasiert ins Frühstückszimmer des kleinen Gasthofs trat, saß Hannelore schon an einem Tisch und las Zeitung. Sie sah auf und erkannte sofort, daß etwas Schlimmes passiert sein mußte. »Was ist?«, fragte sie.
»Gächters kleiner Neffe ist entführt worden. Von der Freundin Joe Kellers. Sie will ihn freipressen.«
Hannelore faltete die Zeitung zusammen. »Wir fahren also nach Stuttgart zurück.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Bienzle nickte. »Ich kann doch jetzt nicht Urlaub machen und den Gächter alleine lassen.«
In jedem anderen Fall hätte Hannelore protestiert. Warum mußte sich Bienzle für unersetzlich halten? Dafür gab es keine vernünftigen Gründe. Aber Gächter war sein Freund und er war auch ihr Freund. Also stand sie auf und sagte: »Ich geh packen.«
Just in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und der Polizeiobermeister Bechtle stürmte herein. »Des ischt gut, daß Sie noch da sind. Wir haben einen Mord. Drunten im Sägwerk. Der Albert Horrenried. Sie sollen die Ermittlungen leiten.«
Bienzle und Hannelore starrten den Beamten an. »Wer sagt das?«, fragte Bienzle.
»Grad ist es übers Faxgerät gekommen. Der Präsident vom Landeskriminalamt und der Stuttgarter Polizeipräsident haben sich scheints darauf geeinigt.«
»Und da muß man dich gar nicht erst fragen, oder was?«, sagte Hannelore.
»Woher wissen die überhaupt, daß ich hier bin?«
Bechtle bekam sofort ein schlechtes Gewissen. »Hano, ich hab die das wissen lassen. Es gibt doch niemand, der das besser kann als Sie. Und wenn man Sie schon mal hier hat...« Er ließ den Satz in der Luft hängen und machte eine Geste, die seine vermeintliche Hilflosigkeit ausdrücken sollte.
Bienzle schickte Bechtle ungnädig weg. Danach wählte er Gächters Handynummer. Die Stimme des Freundes klang seltsam fremd. Leider habe er erst jetzt seinen Anrufbeantworter abgehört, sagte Bienzle. Er wäre sonst sofort gekommen.
»Laß mal, ist vielleicht besser so«, sagte Gächter unbestimmt.
Bienzle war ein wenig verschnupft. »Und warum ist das besser so?«
»Es gibt eben Dinge, in die möchte ich dich nicht hineinziehen, Ernst.«
Nachher sagte Bienzle zu Hannelore: »Das klingt alles gar nicht gut. Ich habe das Gefühl, der Gächter hat etwas vor, was ihn gewaltig in Schwierigkeiten bringen kann.«
»Klingt ein bißchen unbestimmt«, sagte sie.
»Es ist ja auch nur ein Gefühl.«
Bechtle steckte noch mal den Kopf durch die Tür. »Kommen Sie? Ich steh draußen mit laufendem Motor.«
»Jetzt frühstücke ich erst einmal«, sagte Bienzle. »Fahren Sie ruhig schon voraus. Mit leerem Mage kann i net schaffe!«
21
Mascha und Patrick hatten lange geschlafen. Als sie fast gleichzeitig aufwachten, mußten sich beide erst einmal orientieren. Patrick gelang das schneller. Er wollte aus dem Schlafsack krabbeln und merkte dabei erst, daß er ja noch immer an Händen und Füßen gefesselt war.
»Du kannst vielleicht schlafen!«, sagte Mascha.
»Darf ich jetzt zu Onkel Günter?«, fragte der Junge und versuchte die Fesseln von seinen Handgelenken abzustreifen.
»Kann sein, daß das heute klappt.« Mascha stieg aus dem Schlafsack.
Gächter stand um die gleiche Zeit ungeduldig wartend vor dem Justizgebäude in der Urbanstraße. Endlich rollte ein Polizeibus heran. Zwei Beamte führten Joe Keller zum Eingang. Seine Blicke trafen sich mit denen Gächters. Der Kommissar nickte dem jungen Mann unmerklich zu. Im gleichen Augenblick führ ein Personenwagen heran. Dr. Kocher stieg aus. Er war als Zeuge geladen.
»Gut, daß ich Sie treffe«, sagte er zu Gächter. »Ich kann mit dem besten Willen meine Untersuchungsergebnisse nicht mehr zurückhalten.«
»Eine Stunde noch, Herr Dr. Kocher. Bitte!«
Kocher schüttelte energisch den Kopf. »Die Spurensicherung ist mit ihrem Bericht fertig. An Lohmanns Hemd wurden Spuren von einem Mohairpulli gefunden. Mascha Niebur hat einen Mohairpulli getragen! Soll ich Ihnen jetzt noch einmal genau schildern, wie sich der Mord abgespielt hat...?«
»Gibt’s schon einen schriftlichen Bericht?«
»Ich glaube nicht«, sagte Kocher.
»Gut, dann warten wir den noch ab.«
»Und was versprechen Sie sich davon?«
»Daß das Mädchen nicht vollends durchdreht, solang sie das Kind noch in ihrer Gewalt hat!«
Kocher sah Gächter nachdenklich an. Er konnte sich ungefähr vorstellen, was in dem Kollegen vorging. »Na gut«, sagte er
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