Erntedank
Gewissen offenbart und reumütig versucht, ihr die Situation zu erklären. Hätte sich vielleicht sogar zu einer Entschädigungs-Essenseinladung hinreißen lassen. Er biss sich auf die Lippen. Er musste lernen, sich in diesen Situationen besser in den Griff zu bekommen.
Dann fielen ihm die Koffer wieder ein. »Warum … ?«
Seine Frau ahnte die Frage bereits und unterbrach ihn: »Ich hab alles so gut wie irgend möglich trocken gelegt. Dann hab ich beim Siggi angerufen, aber der ist nicht da. Ich hab ihn nur über Handy erreicht.«
Siggi war ein Schulfreund von Kluftinger und ihr Klempner.
»Er ist ganz kurz zwischen zwei Terminen vorbei gekommen und hat sich das Ganze angeschaut. Ist wohl was Größeres, hat er gemeint, jedenfalls konnte er es auf die Schnelle nicht beheben. Er kommt zwar gleich morgen noch mal, aber vorläufig haben wir kein Wasser mehr.« Sie machte eine Pause. »Und jetzt stell dir vor, wer zufällig bei mir angerufen und uns ein Nachtlager angeboten hat, während ich noch beim Badschrubben war?«
Den letzten Satz hatte sie schon etwas fröhlicher gesagt als die Schilderungen der häuslichen Katastrophe.
»Meine Mutter?«, versuchte er es mit dem schlimmsten Szenario, das ihm auf die Schnelle in den Sinn kam.
»Die Annegret«, sagte sie und lächelte ihn an. »Und jetzt kommt die gute Nachricht: Sie hat gesagt, dass wir selbstverständlich bei ihr wohnen können, solange das Wasser bei uns nicht läuft.«
Kluftinger schluckte. Er war bis jetzt nur einmal in Langhammers Flachdach-Bungalow zu Gast gewesen. Lediglich zum Abendessen, was ihm aber völlig gereicht hatte. Und jetzt wollte seine Frau, dass er sich dort einquartieren sollte? In ein und derselben Wohnung, Tür an Tür mit dem quasselnden Mediziner? Nein, das konnte unmöglich ihr Ernst sein. Ausgerechnet heute, nach diesem Tag. Er wollte schon protestieren, wollte sagen, dass sie doch auch zu seinen Eltern hätten gehen können, da ihm diese Lösung im Vergleich auf einmal gar nicht mehr so schlimm vorkam, als sie sagte: »Ich hab gleich zugesagt. Ich konnte dich ja vorher nicht mehr fragen, schließlich warst du nicht da.«
Ob sie den letzten Teil mit einem leichten Vorwurf in der Stimme gesagt hatte oder nicht, konnte Kluftinger nicht mit Sicherheit sagen. Was er aber mit Sicherheit sagen konnte, war, dass er lieber in der Leichenhalle übernachtet hätte als bei Doktor Langhammer. Ein Blick in die Augen seiner Frau, die momentan offenbar zwischen Erschöpfung und Dankbarkeit gegenüber Langhammers schwankte, zeigte ihm aber, dass er diese Gedanken besser unausgesprochen lassen würde.
***
Schon kurz nachdem sie bei Langhammers angekommen waren und der Doktor sein Begrüßungszeremoniell beendet hatte, das jede Menge »Mein-Lieber«-Ausrufe, mitleidiges Seufzen und nicht enden wollendes Schulterklopfen beinhaltete, verzog sich Kluftinger ins Gästebett. Und das nicht einmal, weil er die Gesellschaft des Doktors meiden wollte, sondern weil er wirklich erschöpft war. Natürlich wusste er, dass er nicht gut schlafen würde, das würden die fremde Umgebung und die Erlebnisse des heutigen Tages verhindern. Dennoch fiel er schnell in einen unruhigen Schlummer. Bis zum nächsten Morgen träumte er wirres Zeug von riesigen dunklen Krähen, die sich gegenseitig die Federn ausrupften und die im Flug mit ihren Schatten die Landschaft verdunkelten.
Was heut noch frisch und blühend steht,
Wird morgen schon hinweggemäht,
Ihr edlen Narzissen,
Ihr süßen Melissen,
Ihr sehnenden Winden
Ihr Leid-Hyazinthen,
Müßt in den Erntekranz hinein,
Hüte dich schöns Blümelein!
Früh am nächsten Morgen wurde er wach. Es begann gerade zu dämmern und er entschloss sich, noch im Bett zu bleiben. Erikas Atem ging ruhig und regelmäßig. Kluftinger sah sich im Zimmer um. Ein richtiges Gästezimmer hatte der Doktor. Nicht etwa ein ehemaliges Kinderzimmer. Er musste die Möbel dafür extra gekauft haben: Ein Bett aus massiver Buche, einen Spiegelschrank, zwei passende Nachtkästchen. Ein antiker Tisch stand in einer Ecke, darauf frische Blumen in einer offenbar selbst getöpferten Vase. Und an der Wand Bilder, die Landschaften der Toskana zeigten, die bestimmt Annegret gemalt hatte, als sie, um sich die Langeweile zu vertreiben, einen Aquarellkurs in Italien gemacht hatte.
Kluftinger wurde unruhig, seine Blase zwickte ihn. Sogar ihr eigenes Gästebad hatten sie hier, Gott sei Dank, es wäre ihm peinlich gewesen, wenn der Doktor irgendwann
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