Erntemord
Kopf.
Der Arzt nahm den Y-Schnitt vor, um die inneren Organe untersuchen zu können, sodass die Leiche noch weniger als Mensch erkennbar war.
Das Herz hatte eine normale Größe, zweihundertsiebzig Gramm. Gehirn ebenfalls normal, dreihundert Gramm. Die Lungen normal, die linke dreihundertsiebzig Gramm, die rechte vierhundert.
Die Nieren beide normal, die linke einhundertdreißig Gramm.
Bauchspeicheldrüse, Milz, Leber …
Gewebeproben wurden entnommen, um sie später zu untersuchen. Der Assistent entfernte Insektenlarven aus dem Fleisch, und Jeremy wusste, dass sie für die exakte Bestimmung des Todeszeitpunkts wichtig sein würden.
Ihm fiel ein dumpfes Brummen auf, das fast unterging imPlätschern des Wassers, mit dem der Autopsietisch die ganze Zeit sauber gehalten wurde. Er drehte sich um und bemerkte einen Computer am Tisch nebenan. Auf dem Bildschirm sah er einen blicklosen, von verfaulendem Fleisch bedeckten Schädel – der Schädel von der Frau auf dem Tisch. Daneben errechnete ein Programm ein Diagramm nach dem nächsten, und während er weiter hinschaute, wurde ihr Gesicht langsam aufgebaut, obwohl sie drei Meter daneben als Tote lag. Des Lebens beraubt, wurde es ihr dennoch wiedergegeben.
Als der Doktor zur Seite trat und sein Assistent den Körper zunähte, erschien ein menschliches Gesicht auf dem Bildschirm. Statistik und mathematische Berechnungen hatten sie wieder zusammengefügt, so präzise wie ein chirurgischer Faden.
Sie war hübsch gewesen.
Jung und hübsch.
Aber nicht so hübsch wie Mary.
Oder so schön wie Rowenna.
Aber die tote Frau war definitiv attraktiv genug gewesen, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es überraschte ihn, wie erleichtert er war, dass er sich nicht geirrt hatte. Dass der Tod keine so grausame Arbeit verrichtet hatte, dass sein Schwur, es handele sich nicht um Mary, sich nicht als falsch erwies. Diese Frau war tatsächlich kleiner. Dunkelhaarig, kurvig, vermutlich lach- und flirtbereit. Lebensfroh.
Während der Autopsie und selbst bei der Beschreibung der Verletzungen, die kaum schlimmer sein konnten, war ihm nicht schlecht geworden.
Doch ihr Gesicht zu sehen, zu wissen, wie sie lebend ausgesehen hatte …
„Es ist erstaunlich, nicht wahr?“, sagte Joe zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Jeremy war froh, dass er nicht zusammenzuckte, als die Stimme des Polizisten ihn aus seinen Gedanken riss.
„Das hier wird heute Abend in den Zeitungen und den Nachrichten veröffentlicht, richtig?“, fragte Jeremy.
Joe nickte grimmig. „Sie wissen hoffentlich, dass wir absichtlich eine Menge Details zurückhalten.“
„Ich würde niemals einen Fall mit der Presse diskutieren.“ „Wir haben nichts von dem aufgeschlitzten Mund erwähnt.
Außerdem bat ich meine Männer, nichts davon zu sagen, dass die Leiche als Vogelscheuche hergerichtet aufgefunden wurde. Allerdings ist diese Information doch irgendwie nach draußen gedrungen.“
Jeremy sah ihn fest an. „Nicht durch mich.“
Joe zuckte die Achseln. „Ich sage nicht, dass es irgendwas mit Ihnen zu tun hat. Es waren einfach zu viele Menschen am Tatort. Irgendjemand hat geplaudert. Aber ich hoffe, wir können die Sache mit dem Mund geheim halten. Das wird vermutlich irgendwie symbolisch sein, meinen Sie nicht auch?“
„Könnte ich mir vorstellen, ja.“
„Kommen Sie, machen wir, dass wir hier rauskommen“, sagte Joe. „Harold …“
„Ja, ja, ja. Ich rufe Sie an, sobald ich etwas habe“, versprach der Gerichtsmediziner.
Er nickte Jeremy zu, der als Erwiderung den Kopf neigte. „Danke, dass ich dabei sein durfte.“
Harold Albright, dessen Augen hinter den Vergrößerungsgläsern, die er trug, riesig wirkten, sagte: „Ich war froh, Sie hier zu haben. Wenn Sie mich fragen, ist es gut, einen Außenseiter mit den richtigen Referenzen als Zeugen dabeizuhaben.“
Joe legte Jeremy sogar freundschaftlich eine Hand auf die Schulter, als sie hinausgingen und sich von Miss Immer-Fröhlich verabschiedeten.
Draußen auf dem Parkplatz atmete Joe Brentwood tief ein und schüttelte den Kopf. „Ich werde mich nie an den Geruch des Todes gewöhnen.“
„Kein Mensch sollte das“, sagte Jeremy.
Joe musterte ihn und nickte. „Harold trägt nie eine Maske. Er sagt, er könne Zyankali und anderes riechen. Ihm macht es nichts aus, was er da tut – ihn ärgert es nur, wenn er keine Antwort bekommt. Wir werden alle sterben, sagt er. Als Menschen verdienen wir es zu sterben. Nun ja, für die meisten von uns
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