Erntemord
Morgenmantel auf dem Stuhl. „Ich hole jetzt das Wasser. Möchtest du auch etwas?“
„Gerne“, sagte sie.
Sie hörte seine Schritte auf der Treppe und sah sich in dem leeren Zimmer um.
Rowenna wollte hier nicht allein sein – vielleicht weil sie nicht vollständig überzeugt war, wirklich alleine zu sein. Sie sprang auf, schlüpfte in sein zur Seite geworfenes Hemd und lief ihm die Treppe hinunter hinterher.
Sie bemerkte ein schwaches graues Licht, das durch die Vorhänge im Eingangsbereich fiel, und begriff, dass es Morgen war. Sehr früher Morgen.
Doch es war Morgen, und dafür war sie dankbar.
Jeremy betrachtete Rowenna über den Küchentisch hinweg, die ihren Kaffee trank und ihn ebenfalls ansah. O ffensichtlichwar er nicht der Einzige, der sich Sorgen machte.
Der Anruf von Joe Brentwood hatte ihn überrascht. Er hatte erwartet, sich anstrengen zu müssen, um Brentwood davon zu überzeugen, dass er in die Ermittlungen mit einbezogen werden sollte. Stattdessen hatte ihn Brentwood am Morgen angerufen, nur wenige Minuten nachdem Rowenna nach unten gekommen war und sie entschieden hatten, Kaffee zu machen.
„Harold fängt gleich als Erstes mit der Autopsie an“, sagte Joe ohne Vorrede. „Ich gebe Ihnen die Adresse. Seien Sie um Punkt sieben da.“ Dann wies er Jeremy an, sich um Rowennas Sicherheit zu kümmern, und legte auf.
Jeremy war gern in Rowennas Gesellschaft, doch nach ihrer Erfahrung mit dem Auffinden der Leiche glaubte er nicht, dass sie bei der eigentlichen Autopsie dabei sein sollte. Es hatte nichts mit ihrem Geschlecht zu tun, denn seiner Erfahrung nach waren Gerichtsmedizinerinnen ebenso ruhig, gründlich und effizient wie ihre männlichen Kollegen. Ganz zu schweigen davon, dass er gesehen hatte, wie Cops, die einen Meter neunzig groß und zweihundert Pfund schwer waren, beim ersten Schnitt des Skalpells grün wurden und in Ohnmacht fielen. Es lag einfach nur daran, dass er im Laufe seiner Karriere mehreren Autopsien beigewohnt hatte und alles Geld dieser Welt darauf verwetten würde, dass sie noch keine einzige erlebt hatte.
Er legte das Handy zur Seite und wandte sich ihr zu. „Ich muss mich beeilen. Das war Joe. Er bat mich, bei der Autopsie dabei zu sein.“
„Tatsächlich?“, fragte sie und lächelte. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass er dich sehr mag.“
„Oh, danke, wie nett.“
„Hey, ich sagte nicht, dass ich dich nicht mag. Er ist nur vorsichtig, vermute ich. Er ist ein guter Polizist.“
„Das glaube ich dir aufs Wort.“
„Er kümmert sich. Er hat sich immer gekümmert. Er kennt die Menschen, und er mag sie – wenn er sie näher kennt. Er glaubt Außerdem an das Recht. Du weißt schon, zusammen mit der Wahrheit und dem amerikanischen Traum und all dem.“
„Na, dann weiß ich ja Bescheid. Hör zu, warte hier, bis ich wieder zurück bin, okay? Ich möchte nicht, dass du allein nach Hause fährst.“
„Klar, kein Problem. Ich trage gerne dieselben Sachen zwei Tage hintereinander.“
Er sah ihr in die Augen. Sie hatten eine solch ungewöhnliche Farbe. Wie Gold, das sich schimmernd gegen ihre dunklen, glatten Haare abhob. Ihre Gesichtszügen waren ebenfalls schön, ihre Nase gerade und klein, aber nicht zu klein, ihr Mund wohlgeformt und großzügig, die Wangenknochen hoch, die Brauen fein und geschwungen. Er umfasste ihr Kinn und genoss die Weichheit ihrer Haut in seiner Hand.
„Wir können später jederzeit hinausfahren und einige deiner Sachen holen. Findest du nicht, dass es sinnvoller ist, hier in der Stadt zu bleiben? Nahe bei Brad – und bei deinem Freund Joe. Das macht es einfacher für dich und ihn, das zu tun … was ihr bei eurem Voodoo eben tut“, sagte er und versuchte, es leichthin klingen zu lassen.
Sie errötete und wollte sich abwenden, doch er hielt sie fest.
„Alles, was ich für die Polizei tue, basiert auf Logik, weißt du.“
„Sicher tut es das“, entgegnete er skeptisch.
„Ich meine es ernst. Ich versetze mich in die Rolle der Opfer. Ich versuche, alles über sie herauszufinden, um dann nachzuvollziehen zu können, was sie dachten, was sie fühlten. Ich bin kein Cop. Ich mache nur Vorschläge, die auf dem beruhen, was ich fühle, wenn ich mich in jene Person hineinversetze. Und manchmal erweisen sich meine Vorschläge eben als gut.“
„Warum gehst du während meiner Abwesenheit nicht in die Stadt und kaufst dir etwas zum Anziehen? Du scheinst dir ja große Sorgen darum zu machen, auch wenn deine Jeans für mich okay
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