Ernten und Sterben (German Edition)
kann. Ich garantiere für nichts.«
»Da blutet nichts mehr, du Feigling. Mit so einem Hasenfuß wie dir werden wir keinen Killer überführen.«
Hubertus zog kräftig die Luft ein, bevor er in die Knie ging. Er war es gewohnt, in altertümlichen Handschriften zu stöbern, und deshalb brauchte er nur wenige Sekunden, um das Zeichen beurteilen zu können. »Ein H aus dem gotischen Alphabet. Das ist eine Schrift, die Bischof Wulfila im 4. Jahrhundert zur Übersetzung des Neuen Testaments ins Gotische entwickelt hat. Die Wulfila-Bibel befindet sich in der Universitätsbibliothek ›Carolina Rediviva‹ in Uppsala. Ich würde meine rechte Hand opfern, um sie zu besitzen. Aber ihr Wert lässt sich nicht in schnöden Euros beziffern.« Hubertus klang versonnen und schien nicht bemerkt zu haben, dass Egon-Erwin hinter ihnen stand.
Albertine dagegen hatte die schweren Tritte des Reporters auf der Treppe gleich erkannt.
»Da hab ich aber mal wirklich Glück gehabt, dass unser gelehrter Freund nicht zu einem seiner monotonen Vorträge ausholt«, erklärte Egon-Erwin von der Tür her. »Darf ich dieses außergewöhnliche Tattoo einmal fotografieren? Ihr könnt ja solange die aktuelle Ausgabe der Landeszeitung lesen?«
»Willst du ihn nicht vorher um Erlaubnis bitten«, fragte Albertine.
»Also, erstens schafft er es bis auf die Titelseite unserer Zeitung. Die Werbung ist unbezahlbar, schließlich ist er ja das Opfer. Zweitens haben wir jetzt die einmalige Gelegenheit, den Täter aus der Reserve zu locken, und drittens kann ich mich so bei den Cops revanchieren.« Erwin redete noch, während er schon mit seiner Kamera Gunnar aus allen Blickwinkeln fotografierte.
»Bei Punkt eins und zwei stimme ich dir ja gern zu«, sagte Albertine mit vor der Brust verschränkten Armen. »Aber die Cops, wie du sie despektierlich nennst, werden dich gleich wieder aus dem Verkehr ziehen, wenn du diese Bilder ohne Genehmigung veröffentlichst.«
»Nicht, wenn wir Gunnar eine Einverständniserklärung unterschreiben lassen«, sagte Egon-Erwin und zoomte auf das gotische H.
»Wwww…aaaa…ssss soll … ich …?« Gunnars Lider flatterten, dann riss er die Augen auf und wollte sich aufrichten. Aber er hatte noch nicht genügend Kraft, um der Schwerkraft zu widerstehen.
»Schlafen Sie sich gründlich aus. Bei mir sind Sie sicher.« Albertine legte Gunnar sanft die Hand auf die Schulter.
»Ich geh dann noch mal in den Garten, um den Fundort zu fotografieren, wenn es erlaubt ist.« Egon-Erwin hielt kurz in der Tür. Von Albertine kam ein knappes Nicken. Und schon war Egon-Erwin die Treppe hinunter, bevor Albertine es sich anders überlegte.
»Dieses dämliche Dorf Büchsenschinken raubt mir den letzten Nerv.« Müller Eins trug diesmal einen rauchblauen Hosenanzug von Elégance.
»Sie meinen Klein-Büchsen, Chef«, sagte Müller Zwo.
»Ist mir doch egal. Irgendwer hat diesen Provinzeiern gesteckt, dass wir einen DNA -Test machen wollen. Nun herrscht da Aufruhr. Wahrscheinlich ist das Vögelchen schon ausgeflogen, wenn wir kommen.«
»Welches Vögelchen?«, fragte Müller Zwo.
»Sie sind aber auch zu dämlich. Lassen Sie sich das von der jungen Kollegin erklären, die besucht immerhin die Uni. Ich geh jetzt ’ne Latte trinken und treffe einen Informanten. Keiner folgt mir!« Müller Eins zog ab.
Müller Zwo war über diesen raschen Abgang froh wie lange nicht mehr, denn die Praktikantin hatte mehr als nur einen blitzgescheiten Verstand zu bieten. Ihr Ausschnitt versprach tiefe Einblicke, und weitaus mehr wollte der Macho in ihm in diesem Moment auch nicht erfahren.
Den schwarzen Umhang hatte er an den Nagel gehängt und die Guy-Fawkes-Maske in ein Regal gelegt, auf dem auch der Elektroschocker in seiner Ladehalterung stand. Daneben lagen sorgfältig sortiert die Kabelbinder und das Gaffer-Band. Der Raum am Ende des labyrinthartigen Kellers wurde nur spärlich von einer Neonröhre erleuchtet, die beständig flackerte.
Rund um eine Werkbank, die auch als Schreibtisch diente, waren sämtliche Artikel Egon-Erwins an die Wand geklebt. Am rechten Rand hingen DIN - A 4-große Fotos der bisherigen Opfer, als sie noch einen Kopf besessen hatten. Auf den Fotos konnte man ihnen die pure Angst aus den Augen ablesen. Alle vier Fotos waren mit einem roten Kreuz übermalt. Dann folgte eine größere Lücke an der rohen Backsteinwand. Die weiteren drei Porträtaufnahmen von Albertine, Hubertus und Egon-Erwin ließen die Vermutung zu, dass sie der
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