Ernten und Sterben (German Edition)
der Redaktion lag. Dass auch sein Smartphone zu einer einwandfreien Aufnahme in der Lage gewesen wäre, hatte er komplett vergessen.
Am Ende der Geschichte herrschte Schweigen. Die Frage nach der Identität des Täters konnte Gunnar nicht beantworten. Die Frage nach seinen Feinden schon, aber die interessierten sich nicht mehr für ihn, seit er auf dem Land wohnte und sie auf dem Hamburger Kiez von der russlanddeutschen Mafia verdrängt worden waren. Die Frage nach Feinden aus dem Dorf konnte Gunnar auch nicht zufriedenstellend beantworten. Es verging kein Fest, wo er nicht in eine Kneipenschlägerei verwickelt worden war. Das sei aber ausschließlich sportiver Ehrgeiz, betonte Gunnar. Und außerdem habe man sich immer danach versöhnt und gemeinsam eine Flasche Korn geleert.
Bei Gunnars Bericht von seinem letzten Faustkampf kam Albertine ins Grübeln. »Warum hat sich Matze Hansen denn so sehr aus dem Fenster gehängt? Ging es ihm wirklich nur um das Pferd vom Bürgermeister und seiner Tochter?« Sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, während Egon-Erwin Gunnar die Einverständniserklärung hinlegte und ihm einen Kugelschreiber reichte.
»Waass ssoll dass denne?«, sagte Gunnar, den wieder die Kräfte verließen.
Albertine beruhigte ihn und führte bei der Unterschrift sanft seine Hand. »Wir werden Ihre Persönlichkeitsrechte wahren. Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Der Killer kann sich jetzt warm anziehen. Er wird bald merken, dass wir ihm auf der Spur sind. Er hat es so gewollt, weil ihn die Gefahr geil macht. Der ist vollkommen krank in der Birne«, stellte Albertine fest.
Gunnar ließ sich von Clementine bereitwillig zurück in das Gästezimmer geleiten.
»Und Gunnar hat er leben lassen, damit wir Todesängste ausstehen und Fehler machen«, sagte Albertine. »Aber den Gefallen werde ich ihm nicht tun.«
sechs
Eigentlich war der Frühdienst für eine Lokalredaktion eine Schnapsidee, aber der Redaktionsleiter kannte es aus den Zeiten beim Fernsehen nicht besser, und so musste immer ein Redakteur qualvolle Stunden im Beisein des »Alten« verbringen, der offensichtlich kein Zuhause, dafür aber ein Feldbett in seinem Büro hatte. Das hatte er sich während des ersten Golfkriegs zugelegt. Das waren noch goldene Zeiten beim Privatfernsehen. In seiner Redaktion arbeiteten um die hundert Journalisten, und alle tanzten nach seiner Pfeife. Die Moderatoren des Frühstücksfernsehens hatten nichts zu lachen und wurden von ihm regelmäßig als Kretins beschimpft. Die Fluktuation war legendär. Hier konnte man alles über das Prinzip von »hire & fire« lernen, bis es den Choleriker selbst kalt erwischte. Er hatte seinen Etat um fünfundzwanzig Millionen überzogen, weil er live quer um den Globus schaltete wie die öffentlich-rechtlichen Geldverbrennungsmaschinen. Erst fiel er weich in den nächsten Chefredakteursessel, und dann entsorgte man ihn in die Lokalpresse. Das war der Anfang vom Ende.
Die verhasste Redaktion beanspruchte eine Etage in einem Altbau in Lüneburgs bester Innenstadtlage. Deshalb gab es im Eingangsbereich auch eine große historische Flügeltür, die kurz nach sieben Uhr in der Früh mit brachialer Gewalt geöffnet wurde.
»Hier spricht die Polizei. Keiner verlässt den Raum!«, blökte Müller Zwo ins Megafon. Er wurde von den Beamten des SEK überholt, die die Räume sicherten. Auf den Sturmtrupp folgten die Ermittler in Zivil, die, mit Umzugskartons ausgestattet, USB -Sticks, externe Festplatten und unzählige Akten einpackten. Die Computer wurden alle in Kleintransporter verladen. Müller Eins, die ein maßgeschneidertes Outfit von Matthias Aull trug, betrat als Letzte den Schauplatz der Verwüstung. Das feminine Kostüm strahlte eine Aura der zwanziger Jahre aus. Sogar der Redaktionsleiter, der von zwei SEK -Beamten in Schach gehalten wurde, stellte einen kurzen Moment lang seinen Tobsuchtsanfall ein und bekam Stielaugen. Doch die Brüllattacke setzte sich kurz danach fort, und wieder war die Rede von der UN -Menschenrechtskonvention, den Reportern ohne Grenzen, dem Deutschen Journalisten-Verband und dem Netzwerk Recherche.
»Festnehmen, abführen, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Rechte belehren, einsperren, Psychiater rufen«, sagte Müller Eins im Telegrammstil und schnippte dabei mit den Fingern der rechten Hand.
»Respekt, Chef. Das ist neuer Rekord. Sie sollten in die Politik gehen«, sagte Müller Zwo zu seiner Domina.
»Klappe halten. Wo ist der Schmierfink, der
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