Ernten und Sterben (German Edition)
grober Klotz.
Dann kam die Frage, auf die Albertine schon gewartet hatte.
»Hatten Sie denn Angst, als der Bürgermeister erschossen wurde, Frau von Krakow?«
»Ja und nein«, antwortete Albertine wahrheitsgemäß. »Aber der Anblick danach war grauenhaft.«
»Vielleicht wollte der Mörder ja Sie persönlich treffen.« Die Bäuerin sah Albertine erwartungsvoll an.
»Kann sein.« Albertine nickte mehrmals. »Kennen Sie eigentlich Horst Wild?«
»Wer soll das sein?« Die Augenlider der Bäuerin zuckten leicht.
»Der Kreisjägermeister«, sagte Albertine.
»Ach ja, der Schweiger. Den kenn ich nur vom Sehen, außerdem sagt der ja nichts.« Die Bäuerin schob sich erstaunlich behände von der Liege.
»Weiß man, warum?«
»Muss irgendwas mit dem Vater zu tun haben.« Bäuerin Schlüter hatte es auf einmal sehr eilig, das Behandlungszimmer zu verlassen.
Der nächste Patient war Opa Severin. Dem Alten sah man seine fünfundachtzig überhaupt nicht an. Die letzten zehn Jahre hatte er am Stammtisch gesessen und sich mit dicken billigen Zigarren vergnügt. Er bestellte sich ein Herrengedeck nach dem anderen und aß Hausmannskost. Diese Kur schien ihn fit zu halten, oder wie er sagte: »Essen hält Leib und Seele zusammen.« Währenddessen hatte sein Sohn aus der bodenständigen »Heideblume« ein gefragtes Restaurant gemacht.
»Mir fehlt nichts, Frau Doktor. Lassen Sie uns einfach mal schnacken.« Er ließ sich gemütlich auf der Liege nieder.
»Gern. Was wollen Sie wissen?«, sagte Albertine.
»Warum geben Sie nach diesem Drama nicht endlich Ruhe?«
»Weil auch ich von diesem Vorfall betroffen bin.« Albertine setzte sich auf ihren erhöhten Ärztinnenstuhl. »Vielleicht galten die Schüsse ja mir.«
»Schüsse? Hat er es öfters versucht?«
»Hat wer es öfters versucht?«
»Der Mörder! Kommen Sie, Albertine, Sie wissen ganz genau, wer Ihnen nach dem Leben trachtet.« Severins blaue Augen funkelten.
Albertine schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Ich habe nur eine Ahnung.«
»Dann verraten Sie mir doch diese Vermutung.«
»Also, ich habe eigentlich keine Zeit für Wortklaubereien, wie es so schön altmodisch heißt. Entweder Sie erzählen mir jetzt alles, oder ich muss Sie bitten, Platz für den nächsten Patienten zu machen.« Albertine notierte etwas in Severins Krankenakte und ging zum Medikamentenschrank, um ihn aufzuräumen.
Der alte Severin starrte sie einen Moment lang an, dann erhob er sich und verabschiedete sich mit einer formvollendeten Verbeugung.
Als Nächstes betraten Frau Parlow und ihr vierjähriger Sohn Pablo das Behandlungszimmer. Pablo hatte sich nun schon zum sechsten Mal einen kleinen Legostein tief in seine Nase gestopft.
»Na, Pablo, was wolltest du denn diesmal bauen?«, fragte Albertine.
»Bauernhof, Kuh, Muh«, sagte Pablo.
»Das hat er beim letzten Mal auch gesagt«, sagte Albertine. »Was willst du einmal werden?«
»Bauer, Kuh, Muh«, sagte Pablo.
Ein hoffnungsloser Fall. Albertine machte sich daran, mit einer sehr schmalen Metzenbaumschere den Fremdkörper zu entfernen.
»Geschafft!«, rief sie aus, als sie das rote Legoklötzchen in der Hand hielt.
Pablo fing an zu wimmern. »Aua, Kuh, tot!«
»Was meint er denn damit, Frau Parlow?«, fragte Albertine.
Frau Parlow nahm Pablo auf den Schoß. »Seit er bei Bauer Schlüter auf dem Hof war, als die Kuh gekreuzigt wurde, redet er nicht mehr in ganzen Sätzen. Ich mache mir wirklich große Sorgen.«
»Er war dabei? Und wo waren Sie?«, fragte Albertine empört.
»In der Küche.« Frau Parlow fuhr sichtlich betreten dem Jungen über die Haare. »Ich habe mit der Bäuerin Kuchen gebacken.«
Albertine ging in die Knie, sodass sie auf Augenhöhe mit Pablo war. »Kuh. Muh. Mörder?«
»Groß. Gesicht. Weiß. Lachen«, antwortete der Junge mit ernster Miene.
Blitzschnell suchte Albertine im Computer nach Fotos von Anonymous-Demonstranten. Google spuckte sofort eine ganze Seite voll grinsender Masken aus.
»So?« Albertine rückte den Bildschirm so hin, dass Pablo die Seite gut erkennen konnte.
»Lachen. Mann. Böse.« Pablo hielt sich beide Hände vors Gesicht. Darunter liefen ihm die Tränen über die Backen.
»Jetzt reicht es aber, Frau Doktor.« Frau Parlow stand auf und nahm den schluchzenden Jungen auf den Arm. »Wir alle wollen wissen, wer unser schönes Klein-Büchsen tyrannisiert, aber das darf nicht auf Kosten meines Sohnes gehen. Nichts für ungut und einen erfolgreichen Tag noch.« Ohne ein weiteres
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