Eros
ging, wie es ihm möglich gewesen
wäre. Vielleicht – war das ja ein Fehler?«
Extemporat
Von Brücken hatte weder Zeit, Geduld noch
Erinnerungsvermögen genug, alles en détail zu erzählen. Dafür gab es ja das
Material. Einen Berg von Material. Die erste Fassung dieses Buches wurde
zwölfhundert Seiten lang, bis ich mich zu einer ebenso naheliegenden wie
radikalen Verdichtung entschloß. Manches konnte ich erst aus den Abhörbändern
rekonstruieren, darunter das Gespräch, das er und Sofie miteinander führten, in
der Nacht des 2. Juni 1967, in der Küche von Sofies Wohnung am Mehringdamm. Es
scheint mir in gewisser Weise symptomatisch, also erhellend und ist deshalb
hier – gegen die rein dramaturgischen Erfordernisse eines Romans – in voller
Länge wiedergegeben, wörtlich.
Sofie: Was soll ich den Leuten sagen, die sich jetzt Waffen
besorgen wollen? Ich weiß es nicht, und ich will nicht verantwortlich sein
dafür, was sie tun, wofür sie sich entscheiden, verstehst du?
Alexander: Du führst ein aufregendes Leben.
Sofie: Du denn nicht?
Alexander: Naja. Heute ist mal ein aufregender Tag. Sonst …
Sofie: In deinem Job erlebt man doch viel.
Alexander: Ja? Man fuhrwerkt sich so durch. Der Weg ist das
Ziel. Mehr ist es nicht.
Sofie: Daß der Weg das Ziel ist, dieser Spruch soll wohl Mut
machen, mich stimmt er traurig. Bedeutet er denn nicht, daß man niemals
irgendwo ankommen wird? Man geht den Weg vorwärts und sucht, und irgendwann
sperrt einem der Tod alle Straßen ab. Daß danach was kommt, glaub ich nicht. Es
würde das Leben ja auch zu einer Kinderei degradieren, zu einer Art Pubertät
voller Qualen und Fragen und Schmerzen. Ich will einmal irgendwo ankommen und
leben, und sei es nur für kurze Zeit, glücklich leben, ein Glück spüren, das
man betasten und an sich pressen kann. Muß nicht lange dauern, nur so lange,
daß man sich dessen bewußt wird und laut zur Sonne hinaufrufen kann, heute,
heute geht es mir gut und ich habe gefunden, wonach ich so lange gesucht hab,
es ist alles schön und ich möchte in tiefer Demut Danke sagen. Vielleicht ist
dieses Glück doch möglich – und wenn ich es je erreichen sollte, dann werde ich
es nie mit der Angst beschmutzen, es könne wieder verloren gehen, denn es ist
ja da und beschenkt mich. Verloren gehen wird es, das zu wissen, sollte die Angst doch wohl betäuben. Ich glaube, das hat
Seneca gesagt.
Alexander: Klingt nach ihm. Ich konnte Seneca nie leiden, er
hat leichfertig geschwafelt von der Würde, mit der man der Angst begegnen soll,
von der Leidenschaftslosigkeit gegenüber dem doch Hinzunehmenden, der tat sich
leicht damit, er war der reichste Mann Roms, mit einem geschätzten Vermögen von
umgerechnet drei Milliarden Mark, was so einer sagt, kommt aus einer zu
privilegierten Position, um …
Sofie: Aber er ist tapfer gestorben und stilvoll, als Nero ihm
den Selbstmord befahl. Er stieg in die Wanne, öffnete seine Adern …
Alexander: Naja, was blieb ihm denn übrig? Er hat die sanfteste
Todesart gewählt, bei dem die Sinne langsam verdämmern. Außerdem wußte er, daß
die Nachwelt seinen Tod sehr genau beobachten und beurteilen würde. Außerdem
war er schon alt und hatte ein genußreiches Leben hinter sich. Wäre es nicht
viel glorreicher gewesen, wenn er versucht hätte, den Tyrannen zu töten?
Sofie: Philosophen töten nicht, das wäre unter Senecas Würde
gewesen. Außerdem war Nero sein Schüler gewesen. Wenn er ihn umbringt, gibt er
dann nicht zu, ein schlechter Lehrer gewesen zu sein?
Alexander: War er ja offensichtlich auch. Also verzichtet er,
meinst du, auf den Tyrannenmord, aus Eitelkeit?
Sofie: Ich glaube, daß jemand wie Seneca sich einfach zu fein
war, selbst in die Belange des Irdischen einzugreifen, er war auf geistiger
Ebene unterwegs. Ich kann das leider nicht, ich bin zu blöd dazu.
Alexander: Aber in seinem Tod war er unfrei, zu dem hat ihn
keine geistige Ebene gezwungen, sondern der höchst irdische Wahnsinn seines
Kaisers.
Sofie: Vielleicht war es gar kein Wahnsinn, und Seneca hatte
tatsächlich den Umsturz geplant?
Alexander: Wie auch immer. Für mich stellt so etwas kein
geglücktes Leben dar. Die Tragik kann man nicht dadurch mindern, daß man sich
ihr leichthin unterwirft. Das ist Augenwischerei, um sich einen Hauch von Würde
zu bewahren und dem Verbrechen den Anstrich einer Belästigung zu geben, die so
eben hingenommen werden muß, wie der Stich einer Fliege. Nein danke. Spielen
wir Rousseau
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