ErosÄrger
allen Titelseiten der großen Zeitungen. Selbst einige Zeitschriften wie »In-Magie« und »Magix« hatten es geschafft, ihre Schlagzeilen bereits im Vorfeld so zu wählen, dass sie zur aktuellen Situation passten.
Ich zog den Kragen meiner schwarzen Kunstfelljacke wegen der herbstlichen Kälte enger und verfluchte stumm die rote Ampel, die mich zum Warten nötigte. Obwohl mir der eisige Wind theoretisch nicht schaden konnte, war er auf der großen Kreuzung doch unangenehm genug, um mich erneut zum Handeln zu zwingen. Mit behandschuhten Fingern zog ich meine langen Haare nach hinten, und zwirbelte die braune Masse zu einem Zopf, bevor ich mir die flauschige Kapuze über den Kopf zog. Da »praktisch« sehr weit von »theoretisch« entfernt war, half es kein bisschen.
Zwecks Ablenkung ließ ich meinen Blick über die Mitwartenden schweifen: Menschen raten half meistens. Und tatsächlich … hauptsächlich standen Kinder und Jugendliche neben mir, die auf dem Weg zur Schule waren.
Junge Wesen
, korrigierte ich mich und lächelte, als mich eines der Mädchen als Nymphe erkannte und anstarrte. Obwohl es vorgab, seine Haare blau gefärbt zu haben, waren es doch die dunkelbraunen Strähnen, die nicht echt waren.
Eine schulpflichtige Seenymphe auf dem Weg
… Als die Ampel auf Grün sprang, setzten sich alle wartenden Wesen wie ein einziges, großes Kollektiv in Bewegung. Ich sah der Jugendlichen nach, als sie mit ihren Freundinnen in ein Billardcafé abbog …
die erste Unterrichtsstunde zu schwänzen
.
Ich dachte an Lukas und Mina. Die beiden hatten wirklich Recht …
gehabt
, fügte ich in Gedanken hinzu, als mir erst Sekunden später bewusst wurde, dass die beiden wirklich und unwiderruflich tot waren. Zwar verspürte ich dank meiner Magie – sie half mir, meine Emotionen unter Kontrolle zu bringen – nur ein sanftes Verlustgefühl, aber selbst das war im Moment beinahe unerträglich. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals nach unten und konzentrierte mich auf die Erzählungen, mit denen mich die zwei immer ungefragterweise belästigt hatten. Wie kompliziert das Leben in den letzten 25 Jahren geworden war. Wie schwer das erzwungene Zusammenlebens von Menschen und übersinnlichen Wesen. Vor dem magischen Krieg war so gut wie alles, was einfach so über die Straße ging und am Alltagsleben der Menschen teilnahm, ebenfalls ein Mensch.
Ehrlich? Ich hielt es für das Geschwätz von freundlichen, älteren Leuten. Es fiel in die Kategorie: »Früher war sowieso alles besser.« Aber hey?! Ich kannte es eben nicht anders. Als Nachkriegskind geboren, fand ich es jeden Tag aufs Neue aufregend, die Interaktionen zu beobachten. Denn heute gingen Werwölfe, Vampire, schwarze Männer und Nymphen zur selben Zeit zur Arbeit wie die Menschen. Zahlten ihre Steuern – oder eben auch nicht – und nahmen am öffentlichen Leben teil. Die meisten von ihnen würde man nicht einmal erkennen, wenn sie einen über den Haufen rannten. Und dass ich nicht mehr wirklich an der Interaktion teilhaben konnte, war ein Wermutstropfen, den ich nur zu gerne in Kauf nahm. Hauptsache, ich lebte – überlebte.
Ich wich einem zusammengefegten Blätterhaufen aus und bog vom Einkaufsboulevard in eine Nebenstraße. Der Unterschied war sofort spürbar: Weniger Stimmgewirr, keine schnatternden Schulschwänzer jedweder Gattung, und kein Slalomlauf mehr, um an schlendernden Rentnern, bummelnden Kentauren oder renitenten Schnäppchenjägern vorbeizugelangen. Kleine Kunstläden, ein Geschenkgeschäft, ein Fotostudio, ein Internetshop und ein esoterischer Laden säumten den Weg. Zusammen mit dem sinnlich-erotischen Buchladen »Herzenslust« bot sich hier eine echte Alternative für Einkäufe abseits vom Üblichen. »Madam Sarafins«, das Geschäft meiner Engelfreundin Daria, in dem man von Voodoo über Runensteine bis hin zu legalen Zaubermitteln alles kaufen konnte – Schnick-Schnack und echte Magie – rundete das Bild einer alternativen Shoppingmeile lediglich ab.
Die Türglocke bimmelte leise, als ich das warme Halbdunkel des Geschäftes betrat und beinahe über die erste Stolperfalle – ein Halloween-Promotionsaufbau aus geschmacklosen, kleinen Särgen – gefallen wäre. Irgendwie hatte sich trotz der Integration und der Anpassung das Gerücht hartnäckig gehalten, dass Läden wie diese nicht hell erleuchtet sein dürfen. Als ob sich echte Magie an Lichtverhältnissen orientieren würde. Aber für die meisten Lebewesen, egal wie übersinnlich sie waren,
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