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Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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Abstand gewinnen.
    Die Windschutzscheibe war zugefroren und der Motor tat sich schwer bei diesen Temperaturen - da wäre ein bisschen Magie echt praktisch. Aber kannte ich irgendwelche nützlichen Beschwörungen? Nein, natürlich nicht. So etwas Sinnloses wie den lateinischen Namen von zum Beispiel Fingerhut konnte ich herunterrattern: Digitalis purpurea. Das half  mir ungemein.
    Das Auto schlitterte auf der gesamten unbefestigten Zufahrt von einer Seite zur anderen, bis ich endlich die Nebenstraße erreichte, die zum Glück geräumt war. Von dort waren es noch ein paar Meilen  bis zur ebenfalls geräumten Hauptstraße, die in die Stadt führte. Weil mir die Stadt ja auch so viel zu bieten hatte, nicht wahr? Da waren das chinesisch-arabische Restaurant, die leerstehenden Gebäude, der Laden, in dem ich zweimal gefeuert worden war ... Dann gab es da eine schmuddelige Bar, einen Lebensmittelladen und einen heruntergekommenen Waschsalon. Die Main Street war vier Blocks lang. Ich war schon in Museen gewesen, die größer waren.
    Aber wohin sollte ich sonst fahren? Ich hatte ein paar Schritte vorwärts und fünfzig zurück gemacht. Mein Magen knurrte und zog sich schmerzhaft zusammen, was mich daran erinnerte, dass ich noch nichts gegessen hatte. Ich fuhr am Drugstore vorbei und konnte es mir natürlich nicht Verkneifen hineinzusehen. Das Licht brannte, das >Geöffnet<- Schild hing an der Tür, aber ich sah niemanden außer einer Frau, die am verlassenen Kassentresen stand und sich umsah, als hoffte sie, dass bald jemand kam, um sie zu bedienen.Ich wette, jetzt bedauerte Old Mac, dass er mich gefeuert hatte.
    Die Main Street endete und eine Viertelmeile weiter fingen wieder die leerstehenden Grundstücke mit vereinzelten kleinen Häuschen und Strommasten an.
    Mit einem Seufzer drehte ich wieder um. Vielleicht würde ich mir bei Pitson's, dem einzigen Lebensmittelladen, etwas kaufen und dann nach River's Edge zurückfahren. Es war noch nicht einmal acht Uhr morgens - was sollte ich sonst tun? Als ich wieder bei MacIntyre's Drugs vorbeifuhr, sah ich, wie die Frau mit leeren Händen den Laden verließ. Es hatte sie niemand bedient. Hatte sie nicht nach Old Mac gerufen? Er sollte doch hinter dem Apothekentresen stehen.
    Ohne dass ich es geplant hatte, kam ich vor dem Laden zum Stehen.
    Eine Minute saß ich nur da, tat nichts und tippte mit den Fingern aufs Lenkrad. Dann stieg ich aus, schloss den Wagen ab und ging zurück zum Drugstore. Die Ladenglocke läutete so fröhlich, als wollte sie mir versichern, dass ich nicht gerade die Dummheit beging, in meine persönliche Hölle zurückzukehren. Ich schaute in jeden Gang, konnte den alten Mac aber nirgendwo entdecken. Zögernd ging ich nach hinten. Die Tür der Apotheke, die immer verschlossen sein musste, stand offen und am Schloss hing ein Schlüsselbund. Das Licht brannte, aber Old Mac war nicht da. Das war noch nie vorgekommen.
    Ich schloss den Apothekenbereich ab und steckte die Schlüssel ein. Old Mac war nicht im Lager, aber Fußspuren im Schnee führten zu einem Schuppen hinter dem Laden, in dem weitere Vorräte lagerten. Die Tür stand offen und ich schlich mich an, weil ich Angst vor dem hatte, was ich dort womöglich finden würde. Ich bin so gar nicht heldenhaft, aber den Notruf wählen kann ich wie ein Profi.
    Dann sah ich ihn. Er stand im Schuppen und hatte den Kopf an einen Karton gelehnt. Er murmelte vor sich hin. Be;tete er? War er verrückt geworden? Ich meine, noch verrückter? Das war nicht gut. Ich beschloss, ihm noch ein paar Minuten zu geben und abzuwarten, ob er sich wieder berappelte. Ich kehrte in den Laden zurück. Ich hatte in meinem Leben natürlich eine Menge Menschen verloren. Auch mein Sohn war gestorben. Der Sohn, den Reyn damals vor so langer Zeit entdeckt hatte. Das alles war wirklich lange her -
    ich hatte seitdem mehrere Lebensspannen hinter mich gebracht. Trotzdem brauchte ich nur die Augen zu schließen und konnte ihn wieder riechen, den süßen Babygeruch meines Sohnes, konnte sein Lachen hören, das mich auch immer zum Lachen gebracht hatte ...
    ***
    Es war in Norwegen gewesen. Ich war verheiratet. Mein Mann war ein Widerling und ich hasste ihn, aber damals lebten junge Frauen nicht allein. Mein Sohn war ein Wunder gewesen. Er war dick und knuddelig und seine perfekte Gesundheit ein strahlender Gegensatz zur hohen Kindersterblichkeit jener Zeit. Seine Haare waren lockig und

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