Ersehnt
Leben.
Verblüfft stellte ich fest, dass es erst kurz nach neun war. Inzwischen würden sie mich natürlich längst vermissen. Ich bog in die Nebenstraße ein und kurze Zeit später tauchte der winterkahle Ahorn auf, der die Zufahrt von River's Edge markierte ... sobald ich dort einbog, hatte ich ein komisches Gefühl.
Wegen der Schnee-und Eisglätte fuhr ich langsamer als gewöhnlich, aber auch, weil ich auf dem Hinweg so ins Rutschen gekommen war. Es waren aber nicht die Straßenverhältnisse, die mich beunruhigten. Ich hatte - Angst. Das Gefühl, dass etwas passieren würde. Mein Herz pochte schneller. Ich wurde so nervös, dass ich mich tatsächlich hektisch umsah, als würde mich eine Gang verfolgen und den Wagen angreifen wollen.
Das war doch verrückt. Es waren nur meine wirren Emotionen, die mir einen Streich spielten. Ich war immer noch gefeuert und Dray hasste mich immer noch. Heute hatte ich versucht zu helfen, was mir beinahe ein Verhör bei der Polizei eingebracht hatte. Ich hatte an Bear gedacht. Alles ging schief. Alles tat weh, alles war schmerzhaft.
Ich steigerte mich immer weiter in meine sinnlose Verzweiflung, bis ich plötzlich erkannte, dass das Auto nichtreagierte. Ich hatte leicht auf die Bremse getreten, um vorsichtig um eine Kurve zu kriechen, aber es war nichts passiert. Ich trat fester aufs Bremspedal und nahm ein Ausbrechen des Wagens in Kauf. Nichts. Während meines innerlichen Amoklaufs war ich unwillkürlich schneller geworden und musste jetzt wirklich bremsen. Vor mir lag die letzte Kurve, hinter der sich der Feldweg zum kiesbestreuten Hof verbreiterte.
Ich kam mir vor, als hielte ich die Zügel eines durchgehenden Pferdes. Ich umklammerte das Lenkrad und stemmte mein Bein mit aller Kraft auf die Bremse, aber nichts passierte. Oh, oh, das würde böse enden! Ich musste irgendwie anhalten! Ich griff nach der Handbremse und riss den Hebel hoch. Sie hatte keine Wirkung!
Hatte meine Dunkelheit jetzt schon von dieser Maschine Besitz ergriffen? Ich raste auf Rivers alten roten Truck zu - ich würde ihn zu Schrott fahren.
Was tun, was tun? Doch plötzlich drehte sich das Lenkrad von ganz allein. Ich spürte, wie es sich unter meinen Händen bewegte, obwohl ich versuchte, es in die andere Richtung zu zerren. Und da war sie, die riesengroße Eiche. Wurde größer und größer, so schnell ...
***
»Ist sie verletzt?« Die Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Wie unter Wasser.
»Ich weiß es noch nicht. Stellt erst mal den Motor ab.«
Die Stimme von Solis. Und Lorenz.
Ich wollte die Augen nicht aufmachen, wollte einfach nur wieder einschlafen, aber meine Nase war verstopft und mein Mund voll Blut. Ich blinzelte benommen, als mich starke Hände aus dem Auto zogen.
»Was ist passiert?« Das war Reyn. Hörte er sich besorgt an?
»Wir wissen es nicht«, sagte Solis. »Ich habe sie viel zu schnell auf den Hof fahren sehen und sie hat direkt auf den Baum zugehalten.«
Hab ich nicht, dachte ich, als jemand meine Beine aus dem Wagen zog und mich in den Schnee setzte. Ich beugte mich nach vorn und spuckte Blut aus. Selbst mit meiner verschwommenen Sicht wirkte das leuchtende Rot in all dem Weiß schockierend.
»Nastasja, was ist passiert?« Solis kniete im Schnee und hob mein Kinn an.
»Der Motor geht nicht aus«, sagte Lorenz. Ich hörte meine Schlüssel klimpern. »Ich habe den Schlüssel abgezogen, aber der Motor läuft weiter.«
Meine Nase blutete und ich wischte das Blut weg, bevor es mir wieder in den Mund laufen konnte. Ja, ich weiß - igitt. Da ich mich ohnehin gerade vorbeugte, nahm ich eine Handvoll Schnee und steckte ihn in den Mund. Es fühlte sich traumhaft an und ich überlegte bereits, wie ich meinen ganzen Kopf in den Schnee stecken konnte. Ich hörte, wie die Motorhaube geöffnet wurde.
»Solis«, sagte Reyn. Seine Stimme klang ganz komisch. »Ich habe die Batterie abgeklemmt. Der Motor läuft trotzdem weiter.«
Solis' Hand erstarrte an meinem Arm, wo er gerade nach einem Knochenbruch getastet hatte. »Das ist kein technischer Fehler«, erwiderte er. »Das ist Magie. Dunkle Magie.« »Ich hole River«, rief Lorenz und ich hörte ihn in Richtung Haus rennen.
Ich blinzelte benommen. Ich konnte nicht durch die Nase atmen.
»Kannst du aufstehen?«, fragte Solis. »Ich möchte nicht, dass du noch länger in der Nähe von diesem Auto bleibst.« Ich nickte, was wehtat, und stand langsam auf. Solis
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