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Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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vielleicht gut für ihn gewesen? Hatte ich ein schlechtes Band zwischen uns getrennt? Vielleicht hatte ich schon vorher Dunkelheit ausgestrahlt und ihn damit beeinflusst, all meine Freunde damit beeinflusst. Und nachdem ich länger als je zuvor in den letzten hundert Jahren verschwundenwar, hatte er die Chance gehabt, sich zu entgiften. In diesem Fall würde alles wieder von vorn losgehen, denn ich war immer noch dunkel. Aber wenigstens wusste ich es jetzt. Würde das helfen? Ich hatte keine Ahnung und darüber zu grübeln, verursachte mir Kopfschmerzen. Ich wollte nicht daran denken und alles zu Tode analysieren. Ich wollte mich nur ... besser fühlen.
    Aber zumindest schien es Incy jetzt besser zu gehen, nachdem er die letzten Monate quasi auf seiner eigenen Eisscholle gestanden hatte.
    Ich nahm an, dass es sich allmählich ergeben würde: Entweder ging alles gut oder mein Leben wurde noch grauenhafter und abwegiger, als ich mir vorstellen konnte. Entweder - oder. Aber ich würde damit fertig werden, wie ich bisher alles andere überstanden hatte - vierhundertfünfzig Jahre der Hungersnöte, Seuchen, Überschwemmungen, Kriege und Wirtschaftskrisen.
    Ich starrte aus dem Fenster auf die belebten Straßen von Boston, angenehm benebelt von dem grässlichen Wein und eingehüllt in den warmen Kokon von Incys Caddy. Ich erinnerte mich an unzählige Autofahrten mit ihm, vom ersten T-Modell bis zum heutigen Caddy. Zusammen hatten wir ungefähr achtzig oder neunzig Autos zu Schrott gefahren und danach häufig Schlagzeilen wie »Unfallfahrer bleibt wie durch ein Wunder unverletzt« lesen können. Ich erinnerte mich an Autobahnfahrten in Deutschland ebenso wie an Nachtfahrten durch eine menschenleere Wüste. Wir hatten tolle Sportwagen besessen, aber auch diese uralten Blechdosen mit Rädern wie von einem Fahrrad. Incy und ich. So viele Erinnerungen.
    Rivers Gesicht tauchte in meinem Kopf auf und ich nahm ein paar lange Schlucke aus der Flasche, um es zu vertreiben.

    Ob irgendjemand auf River's Edge überrascht war, dass ich es getan hatte, dass ich wieder mit Incy zusammen war? Oder würden sie die Köpfe schütteln und denken, dass sie von Anfang an gewusst hatten, dass ich total versagen würde? Würden sie nach mir suchen? Hatten sie schon nach mir gesucht? Und Reyn ... er hatte etwas von mir gewollt. Aber ich war weggerannt wie ein scheues Kaninchen vor dem Fuchs - wie das so meine Art ist.
    Weniger als eine Sekunde lang, sozusagen nur als kurzes Aufblitzen, stellte ich mir vor, wie erleichtert ich sein würde, wenn Reyn käme, um mich zu holen, wie er hereinstürmte, mich von Incy wegriss und mich rettete - vor mir selbst. Dann ärgerte ich mich, dass ich diesen Gedanken überhaupt gedacht hatte, dass ich so schwach war, dass ich jemanden brauchte, der mich vor mir selbst rettete. Shit, nein! Die wussten es nicht besser als ich! Vielleicht war ihr Leben das richtige für sie, aber für mich war es die reine Folter gewesen! Ich war einfach nicht dafür gemacht. Es hatte nicht funktioniert. Wie kam ich überhaupt dazu, Reyn als den Stärkeren anzusehen, stärker als ich? Ich war auch allein stark genug. Und ich konnte auf mich selbst aufpassen, was die letzten viereinhalb Jahrhunderte ja wohl bewiesen. Ich brauchte weder ihn noch jemand anders, der mein Leben umkrempelte oder mich vor irgendwas rettete.
    Mir ging es gut.
    Und ich konnte es nach zwei langen Monaten Alltagstrott und Frustration kaum erwarten, endlich wieder Spaß zu haben. »Da sind wir«, sagte Incy und fuhr unter das Vordach des Liberty Hotels. Wir waren schon öfter hier abgestiegen; es war eines von Bostons besten und abgefahrensten Häusern. Die Tatsache, dass es früher mal das Stadtgefängnis gewesen war, erhöhte seinen Coolness-Faktor mindestens auf eine Acht. Der Innenarchitekt hatte dieses Thema auf verschiedene Arten einfließen lassen - so hieß zum Beispiel eines derHotelrestaurants »Zum Kittchen«.
    Der Mann vom Parkservice eilte herbei und öffnete Incy die Tür und auf meiner Seite tat ein Page dasselbe für mich. »Willkommen im Liberty, Madam«, sagte er. »Darf ich Ihr Gepäck nehmen?«
    »Ich habe keins.« Ich schluckte bei dem Gedanken an das, was ich zurückgelassen hatte. Mein Amulett. Den wertvollsten Besitz meiner Mutter. Den Tarak-Sin meiner Familie. Und all meine hässlichen Arbeitsklamotten. Kein Verlust. Ich hatte hier in Boston ein Bankschließfach mit Geld,

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