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Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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Scheite sah, wurde ihr klar, wieviel Angst sie gehabt hatte. »Du Idiot«, sagte sie wieder. Kopfschüttelnd begann sie, den Anorak auszuziehen. Wovor nur hatte sie Angst gehabt? Vor der Stille? Dem Wald? Der Dunkelheit?
    Als Kind hatte sie in ihrem kleinen , neben Annes Zimmer gelegenem Schlafzimmer in ihrem Farmhaus in Hertfordshire immer Angst vor der Dunkelheit gehabt. Nacht für Nacht hatte sie wach gelegen, es nicht gewagt, sich zu bewegen, kaum gewagt zu atmen oder den Blick irgendwohin zu werfen, zu suchen œ suchen wonach? Es war nie etwas da gewesen. Nichts wirklich Furchterregendes jedenfalls, nur diese schreckliche, überwältigende Einsamkeit, die Angst, daß alle anderen das Haus verlassen und sie allein zurückgelassen hatten. Oder daß sie gestorben waren. Hatte ihre Mutter es schließlich erraten, oder hatte sie es ihr gestanden? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, aber sie wußte noch sehr gut, daß ihre Mutter ihr irgendwann ein Nachtlicht geschenkt hatte. Eine Porzellaneule. Ein weißer Vogel mit großen orangenen Krallen und riesigen geheimnisvollen Augen.
    »Du ängstigst das Kind damit bloß zu Tode«, hatte ihr Vater, ein Landarzt, der keine Zeit hatte, sich sonderlich um seine Familie zu kümmern, noch gewarnt, als ihre Mutter die Lampe vom Dachboden holte, aber Kate hatte sie geliebt. Wenn die kleine Kerze in dem Nachtlicht angezündet worden war, leuchtete der ganze Vogel sahnig weiß, und seine Augen wurden lebendig. Es war ein freundlicher Vogel; ein weiser Vogel; und er wachte über sie, leistete ihr Gesellschaft und hielt die Gespenster in Schach.
    Als sie älter wurde, war die Eule nicht mehr entzündet worden, sie war jetzt nur noch ein Schmuckgegenstand. Aber die Angst, mittlerweile rationalisiert und kontrolliert, war geblieben. Manchmal, sogar noch als Studentin an der Universität, hatte sie in ihrem Zimmer im Wohnheim gelegen, das Laken hochgezogen bis zum Kinn, die Finger in das Kissen verkrampft, das sie an die Brust drückte, und das dunkle Rechteck des Fensters angestarrt. Die Angst war inzwischen zwar verschwunden. Aber eine Spur war dennoch davon zurückgeblieben. Nachts machte sie immer die Vorhänge auf. Waren sie geschlossen, verursachte ihr die Dunkelheit Platzangst. Jon hatte sie ausgelacht, ihr aber dennoch den offenen Vorhang zugestanden. Er mochte es, wenn er offen war, weil er es gern sah, wie die Dämmerung über die Dächer von London kroch und die ersten Amseln von den Fernsehantennen zu singen begannen.
    Aber jetzt war Kate erwachsen, auf sich selbst gestellt und ohne Furcht. Sie riß sich zusammen, ging, nachdem sie die Scheite aufgesammelt hatte, in das Wohnzimmer und stapelte sie ordentlich im Kamin, neben dem Ofen. Sie machte die Tür auf und spähte hinein. Die Glut war sehr niedrig. Nachdenklich betrachtete sie die Scheite. Schöbe sie eines davon hinein, würde es die restliche Glut ersticken, das ganze Ding würde ausgehen. Sie hatte keinen Feueranzünder. Was sie brauchte, war Zeitungspapier und ein paar kleine, trockene Zweige, um das Feuer wieder anzufachen. Sie blickte sich um.
    Der Gemüseständer in der Küche war mit Zeitungspapier ausgelegt. Sie raffte es zusammen und ließ die erdigen Überreste lange verschwundener Kartoffeln auf den Bretterboden regnen. Es war genug Papier da, um es zu vier großen Bäuschen zu knüllen. Sie stopfte sie um das Scheit herum, zündete alles an und schloß die Türen, nicht ohne die Luftklappe aufzuschieben. Es war ungeheuer befriedigend zu sehen, wie das Feuer plötzlich aufloderte, aber sie hielt den Atem an. Würde nur das Papier verbrennen, das Holzscheit aber nicht?
    Sie warf einen Blick über ihre Schulter in das Zimmer und fröstelte. Irgendwie hatte es seinen Reiz verloren. Ihr Laptop und ihr Drucker standen tadelnd auf dem Tisch; die Karteikästen, die Notizbücher, die Pappkartons voller Bücher. Sie sah auf die Uhr. Es war acht. Sie war hungrig, sie war müde, und ihr war kalt. Ein gekochtes Ei, eine Tasse Kakao und, falls der Holzofen dazu gebracht werden konnte, zu funktionieren, ein heißes Bad, dann würde sie zu Bett gehen. Alles andere hatte bis zum Morgen Zeit. Bis zum Tageslicht.

VII
    Es war bitterkalt und noch nicht richtig hell. Gut eingepackt in einen Shetlandpullover, eine dicke Jacke, zwei Paar Socken in den Stiefeln und in die Handschuhe ihres jüngeren Bruders, stand Alison Lindsey da und starrte im Schutz der Bäume auf das Cottage. Es lag im Dunkeln. Unten waren die Vorhänge

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