Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
vorbei. Wir wissen es. Wir wissen, was du getan hast -«
»Das ist der Punkt«, warf Greg leise ein. Er hielt Susies kleine Hände in den seinen. »Wir wissen nicht, was er getan hat. Wir glauben, es zu wissen. Wir glauben, daß er Claudia ermordet hat und daß sein Gewissen ihm jetzt den äußersten Preis abverlangt, aber wir wissen es nicht.«
»Nein! Nein! NEIN -!«
Susie schrie so laut, daß Greg und Cissy zurückschraken, ihre Hände losließen, sie voll Angst und Entsetzen anstarrten, als sie sich aufsetzte, der Körper starr, und mit krallenartigen Händen an ihren Augen kratzte.
Greg erholte sich zuerst und zog ihr die Hände aus dem Gesicht. »Er benutzt sie irgendwie. Es gibt nur einen Weg, es zu beenden: Wir müssen herausfinden, was er uns zu sagen versucht. Die Beweise müssen in diesem Grab sein. Wir müssen hin und nachsehen, sobald sich das Wetter gebessert hat. Vergessen wir die Archäologen. Das ist eine Sache zwischen uns und Marcus und Claudia. Wir müssen die Wahrheit wissen. Um unserer aller willen.«
»Er wird versuchen, dich aufzuhalten«, warf Diana leise ein. »Was auch immer in diesem Grab ist: Er will, daß es verborgen bleibt.«
»Pech, für ihn, denn das wird es nicht. Außerdem hat er schon früher versucht, mich aufzuhalten, und es ist ihm nicht gelungen«, grinste er verbittert. »Ich habe ihn besiegt, weißt du noch? Und ich bin entschlossen, die Wahrheit herauszufinden.« Er stand unbeholfen auf und fluchte leise, als ein stechender, hämmernder Schmerz aus seinem Fuß sein Bein hochschoß. »Hast du gehört, Marcus Severus Secundus?« Wie seine Mutter schrie er es an die Decke. »Ich habe keine Angst vor dir, und ich bin entschlossen, die Wahrheit zu erfahren!«
Zur Antwort heulte der Wind noch lauter durch den Kamin und wirbelte Funken auf.
»Wo bist du, Roger? Oh, bitte hilf uns!« rief Diana plötzlich. »Kämpfe für uns gegen ihn. Zwing ihn, zu verschwinden.«
»Ma -« Greg nahm sie in die Arme.
»Nein. Er hat es versprochen. Er ist da. Ich weiß bestimmt, daß er da ist. Hilf uns, Roger. Bitte.« Sie bebte heftig.
Es folgte eine lange Stille. Greg biß sich auf die Lippe. Wohin sein Vater auch immer gegangen war, hier hielt er sich nicht mehr auf. Die Stille um ihn herum wurde dichter. Er spürte, wie er im Nacken eine Gänsehaut bekam.
Irgend etwas war im Raum anwesend. Aber es war nicht sein Vater. Es war eine Frau. Greg starrte fröstelnd um sich. Claudia. Er konnte spüren, daß sie in seiner Nähe war, die Frau in Blau, die Frau, deren Abbild er so oft mit Bleistift und Pinsel heraufbeschworen hatte. »Claudia ist hier. Sprich mit ihr.« Er packte seine Mutter am Arm. »Komm schon. Sag ihr, daß wir die Wahrheit herausfinden wollen. Sag ihr, daß wir sie rächen werden.«
»Greg-«
»Los!« Er drehte sich langsam um, als erwarte er, die Frau irgendwo in einer Ecke verborgen zu finden. »Hörst du mich, Lady Claudia! Wir werden die Wahrheit über deinen Tod erfahren. Das ist es, was du willst, oder? Das ist es, worum es hier die ganze Zeit geht.« Er hielt inne, schwer atmend, halb in der Erwartung, eine Stimme zu hören, die ihm antwortete, aber die einzige Erwiderung kam vom Wind. »Claudia!« Wieder schrie er den Namen.
Er konnte ihn doch riechen, den Duft, der sie umgab.
Und noch etwas.
Tabak.
Mit einem Blick auf seine Mutter biß er sich auf die Lippe. Hatte sie es auch gerochen? Es war zwei Jahre her, seit sein Vater mit dem Rauchen aufgehört hatte œ am Tag, als sein Krebs diagnostiziert wurde -, aber plötzlich konnte er seinen Tabak im Zimmer riechen. War er doch hier und kämpfte für sie, wie er es versprochen hatte, oder war diese seltsame Duftmischung nur Wunschdenken? Weil er sich der plötzlichen Tränen in seinen Augen schämte, ging er ein paar Schritte auf das Fenster zu und sah hinaus, während er versuchte, seiner Gefühle Herr zu werden.
Innerhalb einer Stunde hatte sich dort draußen alles verändert. Aus dem Schnee war Regen geworden. Der Garten, vor kurzem noch in einen zerbrechlichen, kurzlebigen Rahmen aus Eis gesperrt, war ein lebender, tropfender See geworden. Von den Bäumen und Büschen glitt der Schnee in Klumpen herunter. Der Regen, der über die Scheiben lief, trug den vorzeitigen Winter ebenso schnell mit sich fort, wie er gekommen war. Die gelben und orangenen Blätter des Winterjasmins hatten sich aus dem Zuckerguß aus Eis befreit und hingen an schlanken grünen Stielen nach unten.
Er wollte sich gerade zu Diana
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