Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
bekannten Weg nach oben und stand wieder einmal vor der Statue von Marcus Severus. Sie starrte ihm ins Gesicht, als ob sie irgendwo dort in den kalten, toten Augen die Lösung ihres Rätsels finden würde, denn er hatte etwas zu tun mit diesem Grab am Strand, dessen war sie sich sicher. Marcus Severus Secundus und Augusta, seine Frau. Nachdenklich wandte sie sich der Vitrine zu, in der seine Knochen den Blicken preisgegeben waren. Aber sie fand dort keine Antwort. Nichts war da, außer dem leisen Summen der Lichter und, etwas entfernter, den gedämpften, unwirklichen Rufen und Schreien aus dem Endlos-Video über Boadiceas Massaker.
Als sie das Auto wieder in der Scheune abstellte, warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf die Redall-Farm. Diesmal waren sie da; sie konnte sehen, daß Rauch aus dem Kamin kam, und in der Küche brannte Licht. Man erwartete sie zum Abendessen. Angenommen, sie klopfte an und ging schon jetzt hinein? Vielleicht konnte sie beim Kochen helfen. Oder sich, statt im Weg zu stehen, ans Feuer setzen und Tee schlürfen, oder besser noch Whisky, bis die Zeit zum Essen gekommen war. Aber das ging natürlich nicht. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war kaum drei. Sie mußte noch fünf Stunden warten, bevor sie an ihre Tür klopfen durfte.
Sie schulterte ihre Tasche und machte sich auf den Weg durch den Wald. Die Sonne vom Morgen war verschwunden. Der Himmel wurde zunehmend winterlich, und als der Wind aufkam, raste ein schneller, leichter Schneeregenschauer durch die Bäume. Sie zitterte. Wenigstens mußte das Feuer zu Hause bloß noch angezündet werden.
Zu Hause. Sie hatte bisher nicht an das Cottage als ihr Zuhause gedacht, aber vorerst war es das wohl. Sie konnte die Vorhänge vor der hereinbrechenden Dunkelheit zuziehen, Tee trinken, ein Bad nehmen und ein paar Stunden arbeiten, bevor sie sich auf den Weg zurück durch die Finsternis machte.
Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, ließ sie ihre Tasche auf den Boden fallen und sah sich um. Unbewußt machte sie sich darauf gefaßt, wieder Spuren eines Eindringlings zu finden. Es gab keine. Das Cottage war so, wie sie es verlassen hatte. Die Küche war tadellos sauber, Türen und Fenster waren geschlossen, und es roch leicht nach verbranntem Apfelholz. Erleichtert packte sie ihre Einkäufe aus und zündete das Feuer im Ofen an. Dann ging sie langsam nach oben.
Sie öffnete den Schrank und sah die Kleider durch, die sie mitgebracht hatte. Seit sie in Nordessex angekommen war, hatte sie Hosen und dicke Pullover getragen, aber heute abend wollte sie etwas anziehen, das ein wenig formeller war. Formeller, aber immer noch praktisch, denn sie hatte immerhin einen langen, schmutzigen Marsch durch den Wald vor sich. Sie zog einen Wollrock und eine Bluse mit langen Ärmeln hervor und warf beides aufs Bett.
Erst jetzt fiel ihr wieder ein, daß sie Alison versprochen hatte, das Grab zu photographieren. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Bald würde es dunkel werden, am Himmel zeigten sich bereits schwere Wolken. Vielleicht konnte sie es auf morgen verschieben. Doch sie wollte ihr Versprechen halten. Sie mußte das Vertrauen des Mädchens gewinnen, auch dem zuliebe, was von der Grabungsstätte noch übrig war. Sie zögerte noch einen Moment, dann machte sie sich widerwillig auf die Suche nach ihrer Kamera. Sie legte einen neuen Film ein und zog sich mit einem sehnsüchtigen Blick zum Feuer ihren Anorak über.
Der Strand wirkte ausgesprochen düster. Sie schlug den Kragen hoch, stemmte sich gegen den Wind und ging, so schnell sie konnte, zu Alisons Grabungsstelle. Eisern widerstand sie dem Zwang, über die Schulter auf die hereinbrechende Dunkelheit zu sehen. Der Wind hatte den Sand in weiche Rippen geblasen, die spitzen Ecken abgerundet und die Erdoberfläche getrocknet, so daß die verschiedenen Schichten schlechter zu sehen waren. Durch ihre Haare schielend, die sich aus ihrer Spange gelöst hatten und die der Wind in ihr Gesicht peitschte, hob sie die Kamera und spähte durch den Sucher. Sie nahm an, daß nicht einmal mit Blitzlicht etwas zu sehen sein würde, aber wenigstens hatte sie es probiert. Sie photographierte die Grabungsstelle aus jedem Winkel, bis der Film aufgebraucht war, und versuchte ohne große Hoffnung auf Erfolg, ein paar Großaufnahmen von der sandigen Oberfläche zu machen. Sie sah nicht die dunklen, verwitterten Stumpen, die einmal die Finger eines Mannes gewesen waren, und auch nicht den schwarzen Vorsprung, einstmals sein
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