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Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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doch nicht widerstehen. Nur ein kurzer Blick, um zu sehen, ob es noch da war. Jede Flut war jetzt eine Bedrohung. Jeder Sturm, jeder Wind.
    Ihre Schuhe rutschten an der Seite der Düne ab. Sie war fast da, als sie ein Schneeregenschauer traf. Scharf, beißend schnitt ihr das Eis in Gesicht und Hände, riß an ihrem Schal, als sie das letzte Stück hochkletterte. Als sie oben stand und hinunter in die Senke unter der freigelegten Oberfläche der Düne blickte, sah sie, daß sie nicht allein war. Alison kniete mit bloßen Händen im Sand. Sie schien ganz in ihre Arbeit vertieft. Ein Blick auf die Linie aus nassem Tang und Muscheln zeigte Kate, daß die Flut dieses Mal nicht annähernd an die Ausgrabungsstätte herangekommen war. Noch war sie in Sicherheit.
    Sie zögerte, unsicher, ob sie davonschleichen sollte, denn sie wollte nicht stören. Das Mädchen rührte sich nicht. Kate runzelte die Stirn. Sie tat einen Schritt näher heran. Es gab keine Spur von irgendwelchen Schaufeln oder Kellen, keinen Kassettenrecorder, keine Werkzeuge. Alison hatte sich noch immer nicht bewegt. Ihre Haare peitschten wild um ihren Kopf; ihre offene Jacke flatterte um ihren Körper.
    »Alison?« rief Kate besorgt. Sie hielt inne und wartete darauf, daß das Mädchen sich umdrehen und sie beschimpfen würde, aber Alison regte sich nicht.
    »Alison!« rief sie erneut, dieses Mal lauter, während sie begann, zur Vertiefung hinunterzurutschen. »Alison? Bist du okay?«
    Alison gab kein Zeichen, daß sie sie gehört hatte. Sie starrte weiter vor sich hin.
    »Alison?« Sie legte den Arm um die Schultern des Mädchens. »Alison, hörst du mich?« Sie schüttelte sie vorsichtig. Der Körper des Mädchens war steif und kalt unter dem flatternden Parka. »Alison, was ist denn los?«
    Über sie fegte der nächste Schauer vom Meer hinweg. Hagelkörner prasselten auf das drahtige Gras, schlugen lautlos in den Sand, ihnen ins Gesicht. Kate sah voller Entsetzen, daß Alison sich nicht einmal bewegte, als ihr der Hagel ins Gesicht geschleudert wurde. »Mein Gott!« Sie blickte sich verzweifelt um, in der vagen Hoffnung, es würde noch jemand da sein, jemand, der helfen konnte. »Alison, du mußt mir zuhören!« Sie packte die eiskalte Hand des Mädchens. »Alison, du mußt jetzt aufstehen. Komm schon. Steh auf.«
    Alison rührte sich nicht. Bis auf die Hand, an der Kate zerrte und die schlaff und kalt wie der Tod war, blieb sie völlig steif.
    Kate sah sich angestrengt um, auch ihr Gesicht war jetzt eiskalt durch den Schneeregen. In nur wenigen Augenblicken hatte sich die Farbe des Meeres von Zinn zu schwarzer Tinte verändert; undurchdringlich, dicht und düster war seine Bewegung. Weit draußen gab es jetzt keinen Unterschied mehr zwischen Himmel und Wasser. Alles war schwarz und bedrohlich.
    »Alison, komm endlich. Das Wetter wird immer schlechter.«
    Kate ließ die Hand des Mädchens fallen und trat vor sie hin. Alisons Gesicht war völlig reglos, die Augen stierten geradeaus und reagierten nicht einmal, als Kate ihre Hände erst kurz vor ihnen abstoppte. »Also gut.« Kate sprach mit einigem Nachdruck. »Tut mir leid, daß ich das jetzt tun muß.« Sie gab Alison eine heftige Ohrfeige. Das Mädchen rührte sich nicht. Sie blinzelte nicht einmal. Hinter ihnen raste der nächste Hagelschauer über das Meer, grub sich in den Sand, verwandelte den Strand in glitzerndes Weiß.
    Kate starrte sie voller Verzweiflung an, riß sich dann die Jacke vom Leib, um sie hastig um Alisons Schultern zu legen. Ohne den gefütterten, wolligen Schutz umhüllte die Kälte sie wie ein Schleier, wickelte sich um sie, grub sich in ihre Lungen ein, griff mit Krallenhänden nach ihren Knochen, doch sie nahm keine Notiz davon. Sie zog Alisons Arm um ihren Nacken und versuchte vergeblich, sie hochzuzerren, sie auf die Beine zu bringen. »Steh auf, verdammt! Steh endlich auf, Alison, oder die Kälte bringt dich noch um.« Sie kämpfte verzweifelt mit dem Gewicht des Mädchens. »Bitte.« Sie atmete tief durch, legte erneut den Arm des Mädchens über ihre Schulter und den eigenen um Alisons Taille und versuchte mit aller Kraft, sie anzuheben. Sie schaukelte sie leicht zur Seite, um ein bißchen Schwung zu bekommen. Da regte sich Alison ein wenig. »Gut so. Hilf mir. Versuche aufzustehen.« Alison versuchte matt, auf die Beine zu kommen. »Schön. Noch einen Schritt. Braves Mädchen.« Kate schob sie verzweifelt vorwärts. Sie hatte Angst, daß Alison hinfallen würde, als sie

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