Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
jetzt so unsicher aufstand und sich schwer an sie lehnte. »Gut so. Ein Schritt nach dem anderen. Immer mit der Ruhe. So ist‘s gut.« Trotz des eisigen Platzregens rann ihr der Schweiß über das Gesicht, halb führte Kate Alison, halb schob sie sie nach oben, hinauf zum Strand. Die Augen des Mädchens hatten sich noch immer nicht bewegt. Sie schien nichts von dem wahrzunehmen, was um sie herum vorging, doch sie stolperte vorwärts, geführt von Kates verzweifelt festem Griff um ihre Taille, an Kates Schulter hängend wie eine riesige Flickenpuppe.
Zweimal mußten sie anhalten, aber langsam kamen sie doch näher an das Cottage heran. Irgendwie gelang es Kate, das Mädchen gegen die Wand zu lehnen, um nach ihren Schlüsseln zu suchen. Dann war die Tür endlich auf, und sie waren im Haus, geschützt vor dem Hagel. Kate schlug die Tür mit dem Fuß zu. Sie schleppte Alison ins Wohnzimmer und ließ sie dort auf das Sofa fallen. Dann schnappte sie keuchend nach Luft, rannte nach oben in ihr Schlafzimmer und riß eine Decke vom Bett. Auf dem Weg aus dem Zimmer packte sie noch ihren Bademantel und lief wieder nach unten. Alison hatte sich nicht bewegt. Sie hing auf dem Sofa, die Beine auf dem Boden.
»So, erst mal raus aus den nassen Kleidern.« Kate stützte das Mädchen unbeholfen auf die Kissen und machte sich daran, ihr den klatschnassen Pullover und das T-Shirt auszuziehen. Irgendwie gelang es ihr, die kalten, steifen Gliedmaßen in ihren Bademantel zu zwängen. Dabei versuchte sie, etwas Wärme in Alisons feuchtkalte Haut zu reiben, die sie in schrecklicher Weise an die Federn der toten Möwe erinnerte. Sie zog dem Mädchen auch die Stiefel, die Jeans und die Socken aus, hob ihre Beine auf das Sofa und wickelte sie fest in die Decke, so daß der Kopf des Mädchens mit dem zottigen nassen Haar daraus hervorstand wie der Kopf einer erschreckten Puppe.
»Telefonieren.« Mit klappernden Zähnen ging Kate zur Küche. Zitternd wählte sie die Nummer der Redall-Farm. Erst beim zweiten Versuch merkte sie, daß kein Freizeichen ertönte. Die Leitung war nicht unterbrochen, denn sie konnte etwas hören, ein leises Zischen, eine Resonanz, als sei jemand am anderen Ende. Doch ihre Stimme stieß nur auf den Widerhall der Stille. »Oh nein. Bitte nicht.« Es war ein Schluchzer der Verzweiflung. Sie holte tief Luft und wählte die Notrufnummer. Auch hier antwortete nur ein Schweigen, erwartungsvoll, als ob am anderen Ende jemand ebenso verzweifelt horchte wie sie. »Hallo?« Sie schüttelte den Hörer. »Hallo, hören Sie mich? Ist da jemand?« Aber niemand antwortete. Die nächste Ladung Eis traf das Fenster. Langsam legte sie den Hörer auf. Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt.
Sie ging zurück ms Wohnzimmer und sah Alison an. Die Miene des Mädchens war unverändert, noch immer zum Ausdruck erstaunten Schreckens gefroren. Sie blinzelte nicht. Auch ihre Pupillen schienen nicht auf das Licht im Zimmer zu reagieren. Kate faßte unter die Decke und berührte ihre Hand. War sie eine Spur wärmer? Sie hatte den Eindruck. Was tat man nur in so einem Fall von Unterkühlung? Keinen Alkohol, hieß es. Wärmflaschen. Sie hatte keine Wärmflasche, und sie war sich ziemlich sicher, daß sie es gesehen hätte, wenn eine im Haus war. Sie glaubte auch nicht, daß Greg so etwas für notwendig hielt. Was konnte sie also sonst verwenden? Einen heißen Ziegelstein. Hatten die Leute früher nicht einen Ziegel benutzt? Einen heißen Ziegel, in Flanell gewickelt. Sie lächelte grimmig. Sie hatte weder einen Ziegel noch Flanell im Cottage gesehen. Dann erinnerte sie sich an die Steine draußen, die das einfaßten, was einmal die Auffahrt gewesen war. Große, glatte Steine in Kieselform, vielleicht vom Strand. Mit so einem könnte sie es doch versuchen, in ein Handtuch gewickelt. Sie drehte sich um, rannte zurück zur Haustür, öffnete sie und starrte hinaus in den Sturm.
Der klare Morgen hatte sich in boshafte Dunkelheit verwandelt, durch die ein Hagelsturm peitschte. Er riß an ihrer Kleidung und erinnerte sie daran, daß auch sie unterkühlt und naß bis auf die Knochen war. Sie tauchte hinaus und versuchte, einen der Steine hochzuheben. Er war sehr groß und hatte die Form eines Kissens. Einen Augenblick lang dachte sie, er stecke fest. Dann aber löste er sich mit einem saugenden Geräusch aus dem eisigen Boden. Sie trug ihn rasch ins Haus, legte ihn vorsichtig auf den Ofen, öffnete dessen Türen und schob ein paar neue Scheite
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