Erste Male
Wallace:
eine Falschspielerin wie wir alle
Von Jessica Darling
Inzwischen kennt jeder die wahre Identität der PHS-Schülerin, die hier als Hy Wallace bekannt war. Und wer glaubte, mit Hy oder Cinthia oder The Artist Formerly Known As Miss Hyacinth Anastasia Wallace (oder wie sie sich heute nennen mag) befreundet zu sein, war natürlich schwer geschockt, als der Artikel in der New York Times vom 2. September enthüllte, dass sie in Wirklichkeit nicht etwa das coole, abgebrühte Mädchen von nebenan ist, sondern ein Ex-Junkie von einer teuren Privatschule mit einem fetten Bankkonto.
Und auch, wer gar nicht mit Miss Wallace befreundet war, fühlte sich ziemlich verschaukelt, vor allem, als ans Licht kam, dass ihr Roman über die Erlebnisse an der PHS den schönen Titel Lollipop-Lolitas und Fließband-Fleischklopse tragen soll.
»So könnte ich nie lügen!«, schrie die Schülerschaft empört auf. »Das ist doch das Allerletzte!«
Hy spielte die falsche Freundin, weil sie glaubte, nur so kriegen zu können, was sie wollte. Sie veränderte ihre Identität, um sich bei Leuten einzuschmeicheln, die sie später ausschlachten wollte. Sie verriet ihre »Freundinnen«, um voranzukommen. Da fällt es uns allen nicht schwer, aufs hohe moralische Ross zu steigen und sie zu verdammen. Aber fragt euch doch mal selbst: Unterscheiden sich ihre Täuschungsmanöver so sehr von den Lügen, die wir einander – und uns selbst – jeden Tag erzählen?
Denkt mal an die Cliquen, deren Mitglieder sich gegenseitig ins Gesicht lächeln und dann die Messer wetzen, wenn die anderen ihnen den Rücken zudrehen. An die Sportcracks, die sich wie Vollidioten aufführen und sich trotzdem so viele »Donuts« angeln können, wie sie wollen. An die Aufsteiger, die ihre weniger beliebten Freunde fallenlassen wie heiße Kartoffeln, wenn sie es in die Sahneschicht schaffen.
Ich habe jedenfalls die Nase voll von den ganzen Hinterhältigkeiten, der Kriecherei und Heuchelei an der Pineville High. Aber wie kann ich erwarten, dass es anders wird, wenn ich selbst nicht damit aufhöre? Ich habe in den Spiegel und der traurigen Wahrheit ins Auge geschaut: Ich bingenauso eine Falschspielerin wie Miss Hyacinth Anastasia Wallace.
Seit meine beste Freundin weggezogen ist, habe ich meine Gefühle immer mehr versteckt und sie durch Lügen ersetzt, von denen ich glaubte, dass alle sie lieber hören wollten. Ich hatte das Gefühl, ich habe kein Recht auf eine Meinung, weil ich wusste, dass mich niemand mehr darin unterstützt. Aber wir sollten alle den Mut haben, anzusprechen, was uns an dieser Schule und darüber hinaus stört. Vielleicht wird es den Leuten nicht gefallen, was ihr zu sagen habt. Aber vielleicht stellt ihr auch fest, dass ihr nicht allein seid.
Geht das Risiko ein. Wenn wir nämlich angesichts der Gemeinheiten, die wir uns gegenseitig Tag für Tag antun, weiter den Mund halten, dann behält Miss Wallace Recht. Dann sind wir wirklich Lollipop-Lolitas und Fließband-Fleischklopse. Alle miteinander.
DREIUNDZWANZIGSTER
Heute kam die Zeitung raus. Ich hatte die einfältige Vorstellung, schon das Aufschlagen würde alle Dämme brechen und den Zorn der Tussis über mir zusammenschlagen lassen. Aber es ging viel langsamer. Eher so ein stetiges Tropf … Tropf … Tropf … bevor die Pipeline in die Luft fliegt.
Havisham verteilte gegen Ende der Stunde unsere Exemplare. Alle blätterten sofort zu dem Artikel, den sie selbst geschrieben hatten. Die Reportage über Cheerleading und Homecoming vom Club der Ahnungslosen war zwar keine fünfhundert Worte lang, doch sie bot genug Stoff für kichernde Konversation bis zur Pause. Sie kamen also erst beim Mittagessen dazu, meinen Leitartikel zu lesen.
» Zitat Falschspielerin wie wir alle Zitat Ende «, flötete Sara. »Oooooh … das wird bestimmt gut.«
Beim Lesen wurden ihre Augen immer größer.
»Ohmeingott!«, sagte Sara nach ungefähr fünf Sekunden Diagonallesen. »Ich fasse es nicht.«
»Was denn?«, fragte ich. »Du hast es doch noch gar nicht gelesen.«
»Brauche ich auch nicht«, sagte sie und legte die Zeitung hin. »Endlich gibst du mal zu, wie du dich verstellst, seit Hope weg ist.«
Was?!
»Wir warten schon lange drauf, dass du’s endlich einsiehst: Dieses ganze tiefsinnig grüblerische Getue macht dich kein Stück beliebter«, warf Manda ein.
»Wird auch mal Zeit, dass du aufhörst, nur um dich zu kreisen«, fuhr Sara fort.
»Aber echt«, sagte Manda. »Also bitte .«
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