Erste Male
Schaukeln geriet. Das ganze Auto roch nach Kokosnuss. Strand. Sonnenöl und gebräunter Haut.
Marcus sprach beim Fahren kein Wort. Ich hatte das Gefühl, einer von uns musste das Schweigen brechen. Also sagte ich einfach, was mir als Erstes durch den Kopf ging.
»Äh, netter Wagen.«
»Ich liebe dieses Auto.«
»Echt?«
»Ja. Hat einem der coolsten alten Knacker gehört, die ich kenne«, sagte er. »Ich arbeite im Altenheim.«
Beinahe hätte ich Weiß ich gesagt, aber mir fiel noch rechtzeitig ein, dass ich das eigentlich nicht wissen konnte.
»Echt?«
»Ja. Ist aber inzwischen tot.«
»Ach. Das ist ja furchtbar.«
»Ist es auch. Aber er hat mir seinen Wagen vermacht.«
»Aha.«
»Mit allen dazugehörigen Kassetten.«
»Ach ja?«
»Und deshalb liebe ich den Wagen so«, sagte er. »Er ist mit allen Insignien des Rentenalters geschmückt.«
Ich lachte laut auf. Das war einer der lustigsten Sprüche, die ich je gehört hatte. Mit allen Insignien des Rentenalters geschmückt. Plötzlich ging mir auf, dass Marcus und ich uns tatsächlich unterhielten. Eine echte, beiderseitige Unterhaltung. Hitze breitete sich in meiner Brust aus und kroch rot übers Schlüsselbein nach oben.
ROJA. »Rot« auf Spanisch.
Seit die Schule wieder losgegangen ist, habe ich in zwei Dritteln meiner Stunden vor Marcus Flutie gesessen. Wenn seine Füße nicht an meinem Stuhl wackeln, streckt er sie oft lang in den Gang, deshalb kann ich sie sehen, ohne mich umzudrehen. Bis heute Nachmittag hätte ich seine Füße besser beschreiben können als sein Gesicht: keine Socken, ausgeblichene blaue Vans, beim rechten hat der große Zeh schon fast ein Loch ins Leinen geschabt, beim linken hat sich die Sohle gelöst und klappt jedes Mal auf und zu wie das Maul einer Puppe, wenn er mit der Ferse auftippt, und das tut er ziemlich oft.
Ich wusste, es war womöglich eine einmalige Gelegenheit, hier neben ihm im Caddy zu sitzen, also sah ich ihm zum ersten Mal direkt ins Gesicht. Und das sah ich, in dieser Reihenfolge: keine Dreadlocks mehr, stattdessen ziegelrote Stoppeln; Katzenaugen; Sonnenbrand, der sich von seiner Nase pellte; zwei strichdünne Falten rechts und links vom Mund.
Er tippte mir leicht mit dem Zeigefinger gegen die Schulter, und ich zuckte zusammen. Wir standen schon vor unserm Haus.
»Nummer zwölf, oder?«
»Äh, ja.«
Er hielt an und stellte den Motor ab.
»Ich dachte mir, ich bin jetzt lange genug brav gewesen, um mit dir zu reden, ohne Verdacht zu erregen«, sagte er und ließ dabei ein Benzinfeuerzeug auf- und zuschnappen. Auf und zu.
»Mm-hm.« Ich kaute an der Lippe.
»Wir könnten ja über Hausaufgaben reden.« Auf und zu.
»Mm-hm.« Kau.
»Unsere Aufzeichnungen vergleichen.« Auf.
»Mm-hm.« Kau. Kau.
»Uns zum Lernen verabreden.« Zu.
»Mm-hm.« Kau. Kau. Kau.
Marcus warf das Feuerzeug auf den Rücksitz, drehte sich zur Seite und sah mich an. Er schwieg so lange, dass meine Haut vor Spannung total elektrisch aufgeladen wurde, als ob mir alle Körperhaare zu Berge standen – taten sie aber nicht.
»Ich habe The Seagull’s Voice noch nie gelesen, weil ich finde, die Zeitung ist ein großer Haufen Scheiße«, sagte er. »Und diese Meinung hat sich noch verfestigt, als mein literarischer Beitrag abgelehnt wurde.«
Ich wusste genau, wovon er redete. Havisham hatte gemerkt, dass Marcus auch nicht auf der Liste stand, und ihm einen Artikel über die verbesserten Ernährungsrichtlinien der Schulmensa zugeschustert. Marcus hatte daraufhin ein Gedicht mit dem Titel »Requiem fürs Mayo-Sandwich« geschrieben, das aber nicht gedruckt wurde. Ich weiß nur davon, weil Havisham mir gegenüber seine Aufsässigkeit beklagt hatte. Ich wollte es natürlich unbedingt lesen, aber Havisham hatte es schon an seinen Beratungslehrer weitergereicht, damit es in seine Akte kam.
»Len meinte, ich sollte mal deinen Leitartikel checken.«
Len Levy. Alter Kumpel. Jetzt hast du aber richtig was gut.
»Schade, dass ich ihn nicht schon früher gelesen habe«, sagte er und wickelte seine blaue Krawatte mit weißen Punkten um die Finger. »Der erste gute Text, den dieser Misthaufen je gedruckt hat. Schon jetzt ein Klassiker.«
Er hatte ihm gefallen. Mein Leitartikel hatte Marcus Flutie gefallen.
»Hätte ich gewusst, dass es dich so inspiriert, wenn ichdich Falschspielerin schimpfe, hätte ich dich schon früher geärgert.«
Er ließ die Krawatte los, die sich als blauweißer Wirbel entrollte.
Zu viele Worte auf einmal. Ich
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