Erstens kommt es anders ... (German Edition)
die völlig ungewohnte und niederschmetternde Armut geblieben waren. Das hatte diese Frau zerstört.
Keineswegs zu weltfremd, wie gewisse Leute ihm ständig andichteten, konnte Michael ihre Resignation sehr wohl nachvollziehen und verurteilte sie nicht im Geringsten.
Als Stevie und Michael sich wiedersahen, empfand er unendliche Dankbarkeit. Zeitgleich hätte er gern sofort erneut die Flucht ergriffen. Wann immer sein Blick zufällig auf sie fiel, spürte er ihre Lippen und hörte fast gleichzeitig ihr entschiedenes: »Nein!«
Egal, was er sich einzureden versuchte, bisher hatte er es absolut nicht verwunden. Vierzehn Tage genügten offensichtlich nicht, und wahrscheinlich wären auch fünf Jahre nicht ausreichend gewesen. Möglicherweise fiel es ihm deshalb nicht besonders schwer, seine Rolle so überzeugend zu spielen.
Er trat höflich und kühl auf – so, wie es sich gehörte und wie sie es schließlich immer von ihm gefordert hatte. Sorgfältig achtete er darauf, nie unwirsch zu werden oder gar wütend – auch wenn es ungefähr fünfmal pro Stunde sehr, sehr knapp wurde. Nie verweigerte er ein fachliches Gespräch, suchte es sogar, hielt es jedoch immer rein kollegial ohne die geringste private Note. Und erst jetzt, als er es mit allen Mitteln bekämpfte, erkannte er, wie stark sich ihr Verhältnis innerhalb der vergangenen Monate verändert hatte. Zwischen ihnen waren die Dinge längst viel zu persönlich geworden.
Diesen Mr. Rogers, Sir!-und-Miss-Grace-Schwachsinn hätten sie sich ehrlich schenken können. Es funktionierte ohnehin nicht und war daher die Mühe nicht annähernd wert gewesen.
Zunächst wirkte Stevie sichtlich verwirrt. Wann immer er sie ansprach, betrachtete sie ihn mit diesem deutlich ratlosen Blick. Dem folgte die totale Resignation, die er noch am ehesten nachvollziehen konnte, auch wenn er dies ganz bestimmt nicht erreichen wollte. Nach einigen Tagen kamen dann die roten, geschwollenen Augen.
Allmorgendlich.
Dies war mit Abstand die härteste Zeit, denn sie dehnte sich über einen ganzen Monat. Stevie weinte jeden verdammten Abend, kam jedoch nie zu ihm und suchte das Gespräch, fragte ihn, brüllte ihn vielleicht sogar an oder tat irgendetwas anderes.
Irgendwas!
Je mehr Zeit ins Land ging, desto stärker zweifelte Michael am Gelingen seines genialen Plans. Offenbar der geborene Märtyrer, ertrug Stevie stumm und gesenkten Hauptes ihr grausames Schicksal, egal, wie sehr sie litt. Es trieb ihn beinahe in den Wahnsinn, doch er wusste nicht, was er dagegen tun sollte, ohne Kompromisse einzugehen, die er sich doch verboten hatte! Als Michael aber gerade so weit war, endgültig jede Hoffnung aufzugeben, traf es doch noch ein:
Das Wunder.
Es begann ganz harmlos mit einem nicht geschlossenen Knopf. Dem Obersten ihrer Bluse. Zunächst glaubte Michael an ein Versehen und machte sie natürlich nicht darauf aufmerksam, er war schließlich kein Idiot!
Am nächsten Tag durfte ihr Haar atmen, denn es rekelte sich offen, unendlich glücklich und als wahre Augenweide über Schultern und Rücken.
Das mutete wie ein Erdbeben an! Es wischte alle Annahmen, es handele sich nur um einen Irrtum, schlagartig beiseite. Seit über einem Jahr erschien sie jeden Morgen mit dieser total verhunzten Frisur. Was Michaels Meinung nach übrigens ein Verbrechen von doppelter Härte gleichkam, wenn man bedachte, was für Haar sie da mutwillig verschandelte. Und jetzt das!
Bevor er sich von diesem Wunder erholen konnte, traf bereits das nächste ein.
Am folgenden Tag wirkte sie ungewohnt. Zunächst wusste er nicht, woran es lag. Über eine Stunde lang musterte er sie immer wieder verstohlen, bis es ihm endlich aufging:
Stephanie Grace – Dickkopf und die Sturheit in persona – trug Make-up!
Nichts Weltbewegendes, sicher nicht. Für Stevie jedoch stellte das die Kapitulation ihrer starrsten und solidesten Grundsätze dar. Und dabei blieb es ja nicht.
Scheinbar vergnügt blitzten die Augen, die Wangen waren gerötet, sie scherzte, ohne sich dieses grausamen Verbrechens auch nur bewusst zu werden.
Sie lächelte!
Bis zur totalen Verblüffung hingerissen gelang es ihm kaum, den Blick von ihr zu nehmen. Doch für keine Sekunde vermutete er einen Mann als Grund hinter diesen unglaublichen Veränderungen. Er war nämlich sicher, dass sie eine derartige Entwicklung tunlichst vor ihm verheimlicht hätte. Und garantiert wäre sie in diesem Fall nicht völlig und so umfassend aus der Rolle gefallen.
Absichtlich
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