Erstens kommt es anders ... (German Edition)
Chef. Selbst seine Blicke genoss sie, weil er sie vor ihr verheimlichen wollte und regelmäßig auf ganzer Linie versagte. Diese liebevollen, visuellen Botschaften vermittelten ihr in den unwirklichen zwei Stunden das Gefühl, ihm tatsächlich etwas zu bedeuten.
Eine Illusion, ja. Aber eine Schöne.
Froh registrierte sie auch, dass er Wort hielt. Diesmal tauchte kein wundersamer Samariter in Gestalt seines Vaters auf, der zufälligerweise noch einen zweiten Nebenjob für Stevie in petto hielt. Häufig erkundigte er sich nach Vanessas Befinden und lauschte schweigend, jedoch sichtlich interessiert, wenn Stevie sich lautstark über die wieder gestiegenen Medikamentenpreise monierte. Doch er versuchte nie, ihr seine Hilfe aufzudrängen. Wofür sie ihm unendlich dankbar war, denn sie wollte nicht auf ihn angewiesen sein.
Für ihr Gehalt arbeitete sie hart, nur diese Abhängigkeit konnte Stevie akzeptieren, denn sie war mit Sicherheit nicht geschenkt. Inzwischen war der Mordfall in die Verhandlung gegangen, deren Dauer auf mehrere Wochen angesetzt worden war. Michael brachte momentan mehr Zeit im Gerichtssaal zu, als im Büro.
Manchmal musste Stevie zwei / dreimal am Tag zum Gericht laufen, weil ihr Chef dringend ein Dokument benötigte. Nebenbei versah sie selbstständig die gesamte anfallende Arbeit in der Kanzlei.
Die achthundert Dollar für die Stiftung verdiente sie auch nicht im Schlaf.
Schlaf? Was war das noch gleich? Ihre Erinnerungen diesbezüglich verschwammen mehr und mehr, denn es lag bereits zu lange zurück, dass sie etwas in der Art genießen durfte.
Irgendwann begann Michael, monatlich eine zusätzliche Vergütung für ihren Überstundenberg zu zahlen, und Stevie akzeptierte es widerspruchslos. Dafür hatte sie gearbeitet und verdammt:
Sie brauchte das Geld!
Die Lage zu Hause steuerte unvermindert in Richtung Katastrophe.
Mrs. Grace ging es zunehmend schlechter und Bianca ließ sich so gut wie nicht blicken. Die einzige aber ständig wiederholte Begründung war das anspruchsvolle Studium. Stevie wusste, dass ihrer Schwester in Wahrheit davor graute, ihre kranke Mom zu oft zu sehen. Fairerweise konnte sie das ja durchaus verstehen, doch mit der Dreifachbelastung rangierte sie mehr und mehr am Ende ihrer Kräfte.
Wenn nicht bald ein Wunder geschah, dann würde sie aufgeben und das wäre der Ruin für ihre kleine, so seltsame Familie.
Der Immobilienmakler hatte bisher keine Erfolge vorzuweisen und stellte sobald auch keine in Aussicht. »Möglicherweise im Frühjahr«, vertröstete er Stevie. »Wenn der Winter vorbei ist, sind die Leute kauffreudiger und sehen über manches hinweg.«
Das half ihr im Moment leider auch nicht weiter.
Mittlerweile kam sie kaum noch zur Ruhe, weil Vanessa vermehrt auch nachts ihre Hilfe benötigte. Stevies Versuch, ihre Müdigkeit vor Michael zu verbergen, ging auch gründlich daneben. Zum ersten Mal ließ er sich dazu hinreißen, der Realität Zutritt zu ihren zwei Stunden zu gewähren. Denn nachdem sie ihm alles gebeichtet hatte, fragte er sie besorgt, ob sie nicht vielleicht doch besser Urlaub nehmen wolle.
Das lehnte Stevie ab. Sicher, weil Michael momentan ohne ihre Anwesenheit in der Kanzlei restlos erledigt gewesen wäre. Aber auch, weil sie den Ausgleich brauchte. Hätte sie eine Woche lang Tag und Nacht mit ihrer ewig jammernden Mutter zubringen müssen, wäre sie garantiert durchgedreht.
Es war der zweite Samstagnachmittag im November. Bereits seit zwei Stunden weilte Stevie zu Hause. Als Erstes hatte sie Mrs. Gossip fortgeschickt. Oh, zweifelsohne eine sehr nette und bemühte Frau. Nur leider zu teuer ...
Danach ging es los. Das volle Programm:
Vanessa zum Essen bringen, beten, dass sie es nicht erbrach und das Resignieren, wenn Beten mal wieder nicht half. Die Schweinerei wegwischen, ihre Mutter waschen und das Bett beziehen. Eine Stunde warten – zwischenzeitlich Mrs. Grace zur Toilette begleiten. Und dann auf zum neuen Versuch:
Die entkräftete Frau geduldig zum Essen bringen, beten ...
All das natürlich mit Untermalung von Vanessas unaufhörlichem Gejammer, weil die Wirkung der Medikamente inzwischen viel zu früh nachließ und sie von grausamen Entzugserscheinungen heimgesucht wurde.
Das Klopfen an der Tür unterbrach Stevie in ihrer Gebetsphase, obwohl sich bereits die ersten Anzeichen bemerkbar machten, dass auch der zweite Anlauf scheitern würde. Die Gesichtsfarbe ihrer Mutter tendierte derweil leicht ins Grün. Kein gutes Omen,
Weitere Kostenlose Bücher