Ertränkt alle Hunde
Schmerz in meinen Beinen von den Tätlichkeiten der kleinen Zigeunerin und meinem Sturz und der Kugel eines Constables verwandelte sich in wohlige Wärme. Mein Sehvermögen schwand, Farben verwandelten sich in Grautöne. Die Hektik und der Lärm der O’Connell Street gehörten zu anderen Menschen, nicht zu mir.
Die japanische Frau wurde ohnmächtig, ihr Mann schrie um Hilfe. Die anderen Zigeunermädchen bildeten einen abschirmenden Kreis um mich, deckten mich mit ihren Strickjacken zu, versteckten mich, klopften mir auf den Rücken und gurrten wieder und immer wieder: »Mairead Fitzgeralds Junge...«
Die Schiebetür des Lieferwagens glitt auf.
Viele flinke, kräftige Hände hoben mich hoch, schoben mich in einen improvisierten Krankenwagen.
»Paßt auf ihn auf, hört ihr? Es ist Maireads Junge...!«
Ich stellte mir Rubys Gesicht vor, und ihre Stimme. Ich stellte mir vor, wie sie mir sagte, sie sei in Sicherheit.
Am späten Vormittag des nächsten Tages kam ich wieder zu mir. Zwei Frauen befanden sich bei mir im Zimmer. Mit einem kalten, feuchten Tuch wischte die eine über mein Gesicht. Die andere saß an einem Tisch, trank Kaffee und rauchte Zigaretten. Sie trug das Habit einer Nonne.
Sister Sullivans Lager befand sich etwas abseits in einem kleinen Wäldchen hinter dem Moor- und Sumpfland, das hinter den Slums von Dublins Norden über Meilen die North Road säumte. Das würde für die nächsten paar Tage mein Zuhause sein.
Ich erlangte das Bewußtsein auf einem Feldbett im einzigen festen Gebäude des Lagers, falls man es so nennen konnte. Es war eine niedrige Lehmhütte, die von einem namenlosen, verhungernden Bauern aufgegeben worden war. Wahrscheinlich während der Zeit der großen Hungersnot.
Die Hütte bestand nur aus dem einen quadratischen Raum mit dem Tisch und einigen Stühlen, den zerfallenen Überresten einer steinernen Kochstelle, einem Schlafplatz auf einer Empore und einem über meiner Pritsche an die Wand genagelten Kruzifix. Durch die kleine, mit einer Segeltuchplane verhängte Tür kam kein Lüftchen. Selbst kleinere Kinder mußten sich bücken, wenn sie herein oder hinaus wollten. Die Deckenbalken waren rissig und der größte Teil des Dachs verschwunden. Die Zigeuner hatten es mit Papier und abgefallenen Asten notdürftig geflickt, doch es regnete trotzdem durch.
Vor dem kleinen Fenster, an dem ich lag, konnte ich die bemalten Wagen der Zigeuner sehen, mit ihren abgerundeten Blechdächern und Rauchabzügen. Außerdem befand sich dort der gemeinsame Besitz des Lagers - scheckige Pferde, Hunde, eine Hühnerschar, drei sehr alte Autos und der schwarze Lieferwagen. Die Frauen trugen Kopftücher, Umhängetücher und weite Röcke, einige der Mädchen hatten ihre Arbeitskleidung an - Schuluniformen. Die Männer und älteren Jungs kleideten sich abwechslungsreicher, je nachdem, welche Wirkung sie erzielen wollten bei ihren Ausflügen in die Stadt, um Einheimische und Touristen übers Ohr zu hauen.
Meine eigene Kleidung lag ordentlich gefaltet auf einem Stuhl am Fußende der Pritsche. Ich lag unter drei Decken. Mein Oberschenkel war von einer Kugel durchschossen, mein Gesicht und die Beine von Schrammen und Prellungen übersät. Außerdem laborierte ich an den Nachbeben einer Gehirnerschütterung.
Aber ich lebte und war frei. Und Ruby ebenfalls.
Ruby! Ich konnte nur in Gedanken ihren Namen rufen. Meine Kehle erlaubte mir nicht zu schreien.
»Ganz ruhig, Hock«, sagte sie, als ich versuchte, mich aufzurichten. Ruby legte das feuchte Tuch fort und rief Sister Sullivan. »Er ist wieder unter uns, Sister!«
Sister Sullivan trat an meine Seite. »Wurde auch langsam Zeit«, sagte sie, wobei sich ihre Myriaden Falten zu einem erleichterten Lächeln verzogen. »Sei still, Hockaday. Schone deine Kräfte. Weide deine Augen an Ruby hier, während ich dich untersuche.«
Sie zog meine Lider hoch, tastete auf dem Hals nach dem Puls und klopfte Brust und Bauch ab. »Ich würde sagen, du wirst schon wieder, Junge. So, und jetzt wirst du wahrscheinlich wissen wollen, wie wir’s geschafft haben, euch zwei wieder zusammenzubringen, stimmt’s?«
Ich nickte und nahm Rubys Hand.
»Wie jeder, der daran interessiert ist, den Bullen immer einen Schritt voraus zu sein, haben auch wir Zigeuner unsere Informanten in der Dublin Garda, die uns einiges kosten«, sagte Sister. »Jedenfalls ist uns zu Ohren gekommen, daß die Bullen dich und deine Lady schnappen wollten, was nichts Gutes bedeutete. Also sind wir
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