Erwachen
ihn liebevoll an, hörte ihm zu, wie er mit ihr sprach.
„Mom, ich muss gehen, wenn ich die Postkutsche noch erreichen will.“ Seine Stimme zu hören ließ mein Herz schneller schlagen.
Er war so hübsch, dachte ich. Mir wurde ganz elend, als ich erkannte, dass er von Rosewood Hall und von mir fortgehen wollte. Ich wollte mich zeigen, wollte rufen, er solle bei mir bleiben, doch ich blieb stumm und rührte mich nicht.
„Du wirst die Kutsche nicht zu nehmen brauchen, mein Lieber“, bemerkte seine Mutter. „Wenn du fortgehst und irgendwann zurückkommst, dann wird das Schicksal wieder seinen Lauf nehmen und du wirst nicht mehr die Kraft haben, dich gegen deine Gefühle, gegen dein Herz zu wehren!“
Emrys runzelte die Stirn. „Sie gehört mir, Mom! Carys ist mein !“ Er schüttelte den Kopf. „Dagegen kannst nicht einmal du etwas ausrichten!“
„Zwei Thrylien dürfen nicht zusammen sein!“ Patricia sah ihn wütend an. „Schwöre, dass du niemals zurückkommst, Emrys!“ Sie flehte ihn an.
„Selbst, wenn du mich jetzt tötest, Mutter“, er zog eine Augenbraue hoch, „komme ich zurück nach Rosewood Hall, zurück zu Carys!“
Ich sog erschrocken den Atem ein und hielt ihn entsetzt an, als mein Herz still stand, weil es erkannte, dass seine Worte wahr waren.
Der alte, bekannte und auch willkommene Schmerz lähmte mich, als ich sah, wie Patricia ihren Arm in die Brust ihres Sohnes rammte.
Bedauern lag in ihren Augen und in ihrer Stimme:
„Du bist noch nur menschlich, und doch töte ich eine Kreatur. Du wirst nicht zurückkommen, das darfst du einfach nicht!“ Mit einem Ruck riss sie ihm sein Herz aus seinem Körper und zerquetschte es, worauf der Junge, den ich liebte, zu Staub zerfiel.
Patricia sank weinend zu Boden. „Verzeih mir! O Gott! Bitte, verzeih mir! Was habe ich getan? Mein Emrys…“ Ihr Körper zitterte. „Meine arme Carys…“
Ein Ruck ging durch meinen Körper und ich schrie gellend. Mein Herz raste, schmerzte entsetzlich in meiner Brust. Ich sollte an seiner Stelle tot sein! Emrys! Mein lieber Emrys!
Jemand packte mich grob an den Armen und schüttelte mich fest. Orientierungslos öffnete ich meine Augen und hörte mich selbst kreischen, bis ich schließlich Ceridwen vor mir erkannte. Augenblicklich verstummte ich und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
„Carys!“ In dem Gesicht meiner Freundin stand blankes Entsetzen, als sie mich anstarrte. „Du warst wie von Sinnen!“
Ich schüttelte den Kopf. „Es war nur ein Traum, Ced, nichts weiter. Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“
Sie biss sich auf die Lippe. „Hattest du nicht gesagt, seitdem du dich gewandelt hast, empfindest du nichts mehr für Emrys?“
Neue Tränen schossen mir in die Augen, als der Klang seines Namens einen tiefen, aber bekannten Schmerz in mir auslöste. Ich schluchzte hilflos und drückte meine Hand fest gegen meine Brust, als könne ich so das weitaufklaffende, große, schwarze Loch, das mein Herz mit Leere zerfetzt hatte, zusammenhalten und den schieren Schmerz verjagen.
Sie war wieder da, die alte Traurigkeit, mein steter Wegbegleiter, den ich für immer verloren und überwunden geglaubt hatte.
Ceridwen zog mich in ihre Arme und bettete meinen Kopf gegen ihre Brust. „Oh Carys…“, hauchte sie. „Mein Schmerz ist nur ein Bruchteil deines Schmerzes… und ich halte es kaum aus… Carys!“ Sie wiegte mich sanft, bis ich all meine Tränen geweint hatte.
∞∞∞
Die Zeit war etwas sehr Seltsames, etwas Abstraktes.
Sekunden schienen Minuten, Stunden gar Tage zu sein.
Ich befand mich in der Halle, saß in meiner mir liebgewordenen Nische in dem hohen, gemütlichen Sessel neben der großen Eingangstür. Man musste schon genau hinsehen, um mich zu erkennen.
Um mich herum pulsierte das Leben. Die jungen Schüler von Rosewood Hall tobten ausgelassen vor mir, ohne mich wahrzunehmen. Um ehrlich zu sein, ich nahm sie auch nicht wahr.
Ich ignorierte Gwydion und Ceridwen, die mein Versteck nach zwei Tagen bemerkt hatten.
„Mit ihr ist es noch schlimmer als jemals zuvor“, jammerte Gwydion besorgt.
„Ich werde zu ihrer Nan gehen, Gwyn“, beschloss Ceridwen impulsiv. „Verrate niemandem, wo ich bin! Ich bin bald zurück, okay?“
Ich wollte sie aufhalten, wollte sie daran hindern, zu meiner Großmutter aufzubrechen, doch sie war schon fort.
„Du musst Ced zurückholen, Gwyn“, murmelte ich dumpf.
Gwydion sah mich besorgt
Weitere Kostenlose Bücher