Erwachen
entfernt, aber ich lief daran vorbei. Ich konnte jetzt keine Pastellfarben und hübschen Bilder um mich haben. An mir war gerade gar nichts hübsch. Weder die Blutflecken auf meiner Kleidung noch diese wahnsinnige Wut in mir.
Und ganz sicher nicht dieser eklige Blutdurst, der immer noch nicht nachlassen wollte.
Da stand ich also. Die tolle Superheldin. Kaum war ich zum ersten Mal auf einen Dämon getroffen, der tatsächlich einen Menschen angriff, hatte ich es geschafft, nichts auf die Reihe zu kriegen. Gar nichts.
Schlimmer noch - ich hatte das Sterben dieser Frau durch diesen perversen Durst beschmutzt, der mich plötzlich überkommen hatte.
Was sollte das Ganze? Was sollte das Ganze, wenn ich die Unschuldigen nicht retten konnte? Beim Gedanken an die sterbenden Augen der Frau fing ich an zu zittern. Genauso hatten auch die Augen meiner Schwester ausgesehen.
Gottverdammt! Ich sollte jetzt doch ein besserer Mensch sein. Man hatte mich aus diesem sinnlosen, verpatzten Leben gerissen, dabei hatte ich nicht mal meiner Schwester helfen können.
Angeblich war ich doch auserwählt - und auch noch zur Retterin der Menschheit, dabei hatte ich bis jetzt nur versagt. Die Frau in der Gasse, der Dämon in Zanes Keller, meine Schwester - vergewaltigt, gequält und gefoltert. Ich hatte getötet, aber helfen konnte ich bisher niemandem. Meine Versprechen konnte ich nicht halten.
Wie zum Teufel sollte ich denn die Welt retten, wenn ich nicht mal einen einzelnen Menschen retten konnte?
Ich schlang die Arme um mich, überwältigt von der brutalen Wirklichkeit dieser Welt, in die ich geraten war. Mörderische Dämonen in dunklen Gassen. Mädchen mit Rose’ Augen und schwarzen Seelen.
Verdammt unwirklich, das Ganze.
Andererseits hatte man mich den Klauen den Todes entrissen. Verschaff dir einen neuen Körper und ziehe aus, den Dämon zu töten! Tja … vielleicht war Verblüffung beim Anblick von Kreaturen wie aus einem Horrorfilm - und das mitten in Boston - einfach fehl am Platz.
Während meine Gedanken rasten, trugen mich meine Füße weit von Alice’ Wohnung fort. Die dunklen Straßen waren größtenteils menschenleer, aber gelegentlich fing ich mir doch einen Blick ein, was mich daran erinnerte, dass ich von oben bis unten voller Blut war. Nett.
Immerhin war der Blutdurst verschwunden. Was nur gut war, denn wenn ich noch länger darüber hätte nachdenken müssen, wäre ich vielleicht durchgedreht.
Der rote Mantel verdeckte das Blut, aber das weiße T-Shirt mit dem Logo des Bloody Tongue war komplett eingesaut. Ich zog den Mantel aus, dann das T-Shirt und stand nun nur noch in dem dünnen Tanktop da, das ich aus Alice’ Garderobe gefischt hatte. Trotz der kalten Oktoberluft zitterte ich nicht. Durch meine Adern floss genügend Hitze, um mich warm zu halten.
Ich stopfte das T-Shirt in eine Mülltonne und zog mir im Weitergehen den Mantel wieder über. Zunächst hörte ich nichts außer meinem Herzschlag und meinen schnellen Schritten. Aber nach ein oder zwei Meilen merkte ich, dass mir jemand folgte.
Ich wirbelte herum, die Hand am Messer, und fand mich Clarence gegenüber, der so angenervt aussah wie ein Frosch, der gleich seziert werden soll.
»Ich dachte, du hättest keine Möglichkeit, mich ausfindig zu machen?«
»Ich war bei deiner Wohnung«, entgegnete er, »um sicherzugehen, dass mit dir alles in Ordnung ist. Ich wäre wohl besser eher gekommen.« Man konnte seiner Stimme anhören, dass er sich schwer zusammenreißen musste. »Du bist eine Mörderin, Lily. Kein Mitglied einer Bürgerwehr!«
»Er hat sie umgebracht! Und du willst mir erzählen, ich hätte nichts tun dürfen?«
Mit beiden Händen raufte er sich das kurze, dicke Haar. »Du hast das prima gemacht. Beeindruckend. Du hast den großen, bösen, blutsaugenden Dämon umgebracht. Hurra, hurra.«
Die Kinnlade fiel mir hinunter. Jetzt war ich wirklich sicher, dass ich in irgendeinem Wunderland war.
Clarence seufzte. »Tut mir leid, dass ich so auf dir rumhacke, Kleine. Es war wirklich ein prima Mord. Ein übler Dämon, der jetzt nicht mehr unter uns weilt. Meine Hochachtung.«
»Und was ist dann das Problem?«
»Du kapierst es immer noch nicht! Es geht nicht darum, jeden Dämon aus dem Weg zu räumen, der da draußen rumläuft …«
»Ich haben nicht jeden Dämon getötet«, fiel ich ihm ins Wort. Plötzlich tauchte vor meinem geistigen Auge ein Bild von Deacon auf, aber ich schob es schnell beiseite. »Ich habe einen getötet. Einen, der vor
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