Erwachende Leidenschaft
meinst, du müßtest so übereilt heiraten.«
Sie schüttelte den Kopf, aber er packte ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Sei nicht so verdammt eigensinnig«, sagte er, kniff ihr in die Nase und ließ sie los. »Ich bin in ein paar Stunden zurück. Bleib ja hier, Alesandra. Wenn du weggehst, werde ich dich finden.«
Raymond und Stefan warteten in der Eingangshalle. Colin ging an ihnen vorbei, blieb dann aber stehen. »Laßt sie nicht ausgehen«, befahl er.
Raymond nickte sofort. Alesandra riß die Augen auf. »Das sind meine Wachen, Colin!« rief sie. Verdammt, er hatte sie in die Nase gekniffen, herablassend Befehle erteilt, kurz, sie wie ein Kind behandelt, und nun benahm sie sich auch noch wie eins.
»Stimmt genau, es sind deine Wachen«, stimmte Colin zu. Er öffnete die Eingangstür und drehte sich dann noch einmal um. »Aber sie gehorchen dem Hausherrn. Ist es nicht so, Jungs?«
Stefan und Raymond nickten wieder. Sie war beleidigt, und am liebsten hätte sie ihm ihre Meinung über sein hochnäsiges Benehmen an den Kopf geworfen.
Würde und Haltung. Die Worte hallten in ihrem Geist wider und sie konnte die Mutter Oberin förmlich hinter sich spüren. Es war lächerlich genug, denn zwischen ihr und der Nonne lag ein Ozean, doch ihre Lektionen hatten sich eingeprägt. Also zwang Alesandra sich zu einer gelassenen Miene und nickte stolz.
»Wirst du lange fort sein, Colin?« fragte sie mit recht ruhiger Stimme.
Er fand, sie klang heiser und wirkte, als unterdrückte sie ihr Brüllen bloß. Colin grinste. »Vermutlich«, antwortete er. »Wirst du mich vermissen?«
Sie gab sein Lächeln zurück. »Vermutlich nicht.«
Das Schließen der Tür ließ sein lautes Gelächter verstummen.
4
Sie vermißte ihn bestimmt nicht. Colin kam erst eine ganze Weile nach dem Abendessen zurück. Alesandra war froh, daß er so lange fortblieb, denn sie konnte seine Einmischung nicht gebrauchen, und dazu schien dieser Mann wirklich einen starken Hang zu haben.
Sie war eifrig damit beschäftigt, ihre Verabredungen einzuhalten. Den Rest des Vormittags und den gesamten Nachmittag verbrachte sie damit, sich mit den Freunden ihres Vaters zu unterhalten. Sie kamen einer nach dem anderen, um ihren Respekt zu erweisen und ihre Hilfe anzubieten, solange Alesandra in London weilte. Die meisten waren adelig, es gab aber auch Künstler und Arbeiter. Alesandras Vater hatte einen großen Bekanntenkreis. Er war ein exzellenter Menschenkenner gewesen, eine Fähigkeit, die sie geerbt zu haben glaubte, und sie mußte feststellen, daß sie jeden einzelnen der Leute mochte.
Matthew Andrew Dreyson kam als letzter. Der alte, dickbäuchige Mann war Vaters vertrauter Agent in England gewesen, und er verwaltete immer noch einen Teil von Alesandras Vermögen. Dreyson hatte über zwanzig Jahre lang die begehrte Position als Subskribent der Urkunden von Lloyd’s of London innegehabt und war dadurch als Börsenmakler höchst vertrauenswürdig. Doch er besaß nicht nur eine hohe Moral, er war auch klug. Alesandras Vater hatte seine Frau und diese wiederum ihre Tochter angewiesen, daß sie sich im Falle seines Todes an Dreyson wenden sollten, wenn sie finanziellen Rat brauchten.
Alesandra lud ihn zum Abendessen ein. Flannaghan und Valena servierten das Essen. Die Zofe hatte dabei allerdings die meiste Arbeit, da der Butler meist dem Gespräch bei Tisch folgte, bei dem es um Geldangelegenheiten ging. Er war erstaunt, daß eine Frau ein so fundiertes Wissen über die Marktlage besitzen konnte, und machte sich im Geist eine Notiz, seinem Herrn später darüber zu berichten.
Dreyson verbrachte gute zwei Stunden mit verschiedenen Empfehlungen. Alesandra machte selbst Vorschläge und führte dann sämtliche Transaktionen aus. Der Makler benutzte nur ihre Initialen, um die Abschnitte, die slips, bei Lloyd’s unterzeichnen zu lassen, denn es war einfach undenkbar, daß eine Frau in irgendwelchen Unternehmen investierte {} .
Selbst Dreyson wäre entsetzt gewesen, wenn er gewußt hätte, daß die Vorschläge, die sie gemacht hatte, auch von ihr selbst gekommen waren. Aber sie akzeptierte seine Vorurteile und hatte dieses Hindernis umgangen, indem sie einen allen Freund der Familie erfunden hatte, den sie Onkel Albert nannte. Sie erzählte Dreyson, daß er nicht wirklich mit ihr verwandt war, daß sie ihn aber längst so liebgewonnen hatte, daß sie ihn seit Jahren als familienzugehörig betrachtete. Um sicherzustellen, daß Dreyson nicht
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