Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Balten, Afrikaner, Zolas Leute – egal, wer auftauchte, das Ergebnis wäre dasselbe.
So langsam und unauffällig wie möglich drehte Marco den Kopf zur Wand, um seine Optionen abzuwägen. Viele hatte er nicht. Direkt über ihm hing ein kleines Regal, auf dem ein Paar Wildlederhandschuhe lag, eine Tischlampe stand und eine ovale Schale mit Kleingeld und den Kellerschlüsseln. Wie gut er dieses Regal kannte! Auf Höhe seines Knies hing das Kabel der Lampe, darunter standen die Regenschuhe und die Pantoffeln, die Marco einst getragen hatte. Nichts davon nützte ihm in der gegenwärtigen Situation.
Er merkte, wie für Eivind die Haltung langsam unbequem wurde, denn er drehte das Knie leicht nach außen, um den Unterschenkel zu entlasten.
Marco rührte sich nicht. Er ahnte, dass Eivind seine Beinhaltung jeden Moment noch einmal verändern würde, und dann musste er bereit sein, denn eine zweite Gelegenheit würde sichihm sicher nicht bieten. Unmerklich spannte er Bauch- und Pomuskulatur an und zog gleichzeitig die Arme etwas näher an seinen Körper. Kays Griff wurde fester. Jetzt hing alles davon ab, dass Kay auf keinen Fall losließ.
Im selben Moment, als Eivinds Schuhspitzen den Boden berührten, bäumte sich Marco mit einer gewaltigen Kraftanstrengung auf und riss gleichzeitig die Arme an sich. Das Ergebnis war überwältigend: Die beiden Männer stießen mit den Köpfen zusammen, woraufhin Eivind auf die Seite kippte und im Fallen das Regal herunterriss, während Kay hintenüber sank und mit angewinkelten Beinen auf dem Rücken liegen blieb. Beide stöhnten, aber das hielt Marco nicht auf. Er versetzte Eivinds Schulter sogar noch einen Tritt, sodass der an der Fußleiste herabrutschte.
Als Marco aufsprang, wollte Kay ihn am Bein festhalten, aber Marco trat nach seinem Arm, und Kay prallte gegen die Wand.
Unten auf der Straße hielt unterdessen ein Wagen mit quietschenden Reifen. Als die Autotüren zuknallten, war Marco bereits in der Küche. Doch die Hintertür war abgeschlossen, und der verfluchte Schlüssel steckte nicht. Mühsam zerrte Marco mit seinen gefesselten Händen ein Messer aus dem Messerblock, hievte sich auf den Küchentisch und entriegelte ebenso mühsam das Fenster. Dann ließ er sich auf das Vordach des Anbaus plumpsen und sprang von dort in den Hof.
Er konnte gerade noch hören, wie an die Tür gehämmert wurde und Eivind und Kay sich anstrengten, um auf die Füße zu kommen.
Mit gefesselten Händen den Fahrradschuppen zu erklimmen und gleichzeitig das Messer festzuhalten, war eine Tortur. Doch erst als Marco zwei weitere Hinterhöfe durchquert und das Labyrinth der kleinen Nebenstraßen erreicht hatte, wagte er es, anzuhalten und die Schnur durchzusäbeln.
Er schaffte es gerade mal zwanzig Meter die Straße hinunter,da entdeckte er an deren Ende die Balten. Blitzschnell zog er sich in den nächsten Kellereingang zurück. Den Rücken fest an die blaue Tür zu einem Massagesalon gedrückt, wummerte er mit der Ferse dagegen.
Macht auf, macht auf, macht auf, flehte er im Takt der Tritte. Schon hörte er, wie sich auf dem Gehweg Laufschritte und gleichzeitig Rufe vom anderen Ende der Straße näherten.
Macht auf, bitte, macht auf.
Hinter der Tür regte sich etwas.
»Wer ist da?«, fragte jemand mit starkem Akzent.
»Helft mir, ich bin ein ganz normaler Junge! Ich werde verfolgt«, flüsterte er.
Einen Moment lang passierte gar nichts, nur das Hallen der Schritte wurde lauter. Und dann öffnete sich die Tür in seinem Rücken so plötzlich, dass er hintenüber in den Raum fiel.
»Macht schnell zu!«, flüsterte er panisch. Er lag auf dem Rücken und sah in das verschlafene Gesicht einer Asiatin.
Sie tat, was er sagte, und keine fünf Sekunden später rannte sein Verfolger draußen vorbei.
Die Frau nannte sich Marleen, hieß aber garantiert anders. Sie brachte ihn zu einem blau gestreiften Sofa, über dem eine Liste mit den Massagepreisen hing, abgefasst in verschiedenen Sprachen. Dort durfte er Platz nehmen und sich ausweinen.
Kurz darauf kamen zwei weitere Frauen hinzu, ebenfalls verschlafen und ungeschminkt und ganz bestimmt noch nicht bereit, sich den Anforderungen des Tages zu stellen.
»Wovor läufst du weg?«, fragte die, die zuletzt gekommen war, und strich ihm sanft über die Wange. Sie war zart, aber von einer aufdringlichen Parfümwolke umgeben. Ihr Gesicht war übersät von kleinen Pockennarben, ihre viel zu großen Brüste standen unnatürlich ab, sie hatte insgesamt
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