Erzählungen
dort, zwei
kleine Kinder rechts und links in meinen Armen. Wie nahmen
wir alle den Ausdruck der Verklärung von dem gemarterten
Gesicht, wie hielten wir unsere Wangen in den Schein dieser
40
endlich erreichten und schon vergehenden Gerechtigkeit! Was
für Zeiten, mein Kamerad!" Der Offizier hatte offenbar verges-_________________________________________________________________
Franz Kafka: Erzählungen
- 67 -
sen, wer vor ihm stand; er hatte den Reisenden umarmt und
den Kopf auf seine Schulter gelegt. Der Reisende war in großer
Verlegenheit, ungeduldig sah er über den Offizier hinweg. Der
Soldat hatte die Reinigungsarbeit beendet und jetzt noch aus
5
einer Büchse Reisbrei in den Napf geschüttet. Kaum merkte
dies der Verurteilte, der sich schon vollständig erholt zu haben schien, als er mit der Zunge nach dem Brei zu schnappen
begann. Der Soldat stieß ihn immer wieder weg, denn der Brei
war wohl für eine spätere Zeit bestimmt, aber ungehörig war
10
es jedenfalls auch, daß der Soldat mit seinen schmutzigen
Händen hineingriff und vor dem gierigen Verurteilten davon
aß.
Der Offizier faßte sich schnell. "Ich wollte Sie nicht etwa rühren", sagte er, "ich weiß, es ist unmöglich, jene Zeiten 15
heute begreiflich zu machen. Im übrigen arbeitet die Maschine
noch und wirkt für sich. Sie wirkt für sich, auch wenn sie allein in diesem Tal steht. Und die Leiche fällt zum Schluß noch immer in dem unbegreiflich sanften Flug in die Grube, auch wenn
nicht, wie damals, Hunderte wie Fliegen um die Grube sich
20
versammeln. Damals mußten wir ein starkes Geländer um die
Grube anbringen, es ist längst weggerissen."
Der Reisende wollte sein Gesicht dem Offizier entziehen und
blickte ziellos herum. Der Offizier glaubte, er betrachte die Öde des Tales; er ergriff deshalb seine Hände, drehte sich um ihn,
25
um seine Blicke zu erfassen, und fragte: "Merken Sie die
Schande?"
Aber der Reisende schwieg. Der Offizier ließ für ein Weilchen
von ihm ab; mit auseinandergestellten Beinen, die Hände in
den Hüften, stand er still und blickte zu Boden. Dann lächelte
30
er dem Reisenden aufmunternd zu und sagte: "Ich war gestern in Ihrer Nähe, als der Kommandant Sie einlud. Ich hörte die
Einladung. Ich kenne den Kommandanten. Ich verstand sofort,
was er mit der Einladung bezweckte. Trotzdem seine Macht
groß genug wäre, um gegen mich einzuschreiten, wagt er es
35
noch nicht, wohl aber will er mich Ihrem, dem Urteil eines
angesehenen Fremden aussetzen. Seine Berechnung ist sorg-
fältig; Sie sind den zweiten Tag auf der Insel, Sie kannten den
alten Kommandanten und seinen Gedankenkreis nicht, Sie sind
in europäischen Anschauungen befangen, vielleicht sind Sie ein
40
grundsätzlicher Gegner der Todesstrafe im allgemeinen und
einer derartigen maschinellen Hinrichtungsart im besonderen,
_________________________________________________________________
Franz Kafka: Erzählungen
- 68 -
Sie sehen überdies, wie die Hinrichtung ohne öffentliche An-
teilnahme, traurig, auf einer bereits etwas beschädigten Ma-
schine vor sich geht - wäre es nun, alles dieses zusammenge-
nommen (so denkt der Kommandant), nicht sehr leicht mög-
5
lich, daß Sie mein Verfahren nicht für richtig halten?
Und wenn Sie es nicht für richtig halten, werden Sie dies
(ich rede noch immer im Sinne des Kommandanten) nicht
verschweigen, denn Sie vertrauen doch gewiß Ihren vieler-
probten Überzeugungen. Sie haben allerdings viele Eigentüm-
10
lichkeiten vieler Völker gesehen und achten gelernt, Sie wer-
den daher wahrscheinlich sich nicht mit ganzer Kraft, wie Sie
es vielleicht in Ihrer Heimat tun würden, gegen das Verfahren
aussprechen. Aber dessen bedarf der Kommandant gar nicht.
Ein flüchtiges, ein bloß unvorsichtiges Wort genügt. Es muß
15
gar nicht Ihrer Überzeugung entsprechen, wenn es nur schein-
bar seinem Wunsche entgegenkommt. Daß er Sie mit aller
Schlauheit ausfragen wird, dessen bin ich gewiß. Und seine
Damen werden im Kreis herumsitzen und die Ohren spitzen;
Sie werden etwa sagen:
20
'Bei uns ist das Gerichtsverfahren ein anderes', oder 'Bei
uns wird der Angeklagte vor dem Urteil verhört', oder 'Bei uns
gab es Folterungen nur im Mittelalter'. Das alles sind Bemer-
kungen, die ebenso richtig sind, als sie Ihnen selbstverständ-
lich erscheinen, unschuldige Bemerkungen, die mein Verfahren
25
nicht antasten. Aber wie wird sie der Kommandant
Weitere Kostenlose Bücher