Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
Vom Netzwerk:
dort, zwei
    kleine Kinder rechts und links in meinen Armen. Wie nahmen
    wir alle den Ausdruck der Verklärung von dem gemarterten
    Gesicht, wie hielten wir unsere Wangen in den Schein dieser
    40
    endlich erreichten und schon vergehenden Gerechtigkeit! Was
    für Zeiten, mein Kamerad!" Der Offizier hatte offenbar verges-_________________________________________________________________

    Franz Kafka: Erzählungen

    - 67 -
    sen, wer vor ihm stand; er hatte den Reisenden umarmt und
    den Kopf auf seine Schulter gelegt. Der Reisende war in großer
    Verlegenheit, ungeduldig sah er über den Offizier hinweg. Der
    Soldat hatte die Reinigungsarbeit beendet und jetzt noch aus
    5
    einer Büchse Reisbrei in den Napf geschüttet. Kaum merkte
    dies der Verurteilte, der sich schon vollständig erholt zu haben schien, als er mit der Zunge nach dem Brei zu schnappen
    begann. Der Soldat stieß ihn immer wieder weg, denn der Brei
    war wohl für eine spätere Zeit bestimmt, aber ungehörig war
    10
    es jedenfalls auch, daß der Soldat mit seinen schmutzigen
    Händen hineingriff und vor dem gierigen Verurteilten davon
    aß.
    Der Offizier faßte sich schnell. "Ich wollte Sie nicht etwa rühren", sagte er, "ich weiß, es ist unmöglich, jene Zeiten 15
    heute begreiflich zu machen. Im übrigen arbeitet die Maschine
    noch und wirkt für sich. Sie wirkt für sich, auch wenn sie allein in diesem Tal steht. Und die Leiche fällt zum Schluß noch immer in dem unbegreiflich sanften Flug in die Grube, auch wenn
    nicht, wie damals, Hunderte wie Fliegen um die Grube sich
    20
    versammeln. Damals mußten wir ein starkes Geländer um die
    Grube anbringen, es ist längst weggerissen."
    Der Reisende wollte sein Gesicht dem Offizier entziehen und
    blickte ziellos herum. Der Offizier glaubte, er betrachte die Öde des Tales; er ergriff deshalb seine Hände, drehte sich um ihn,
    25
    um seine Blicke zu erfassen, und fragte: "Merken Sie die
    Schande?"
    Aber der Reisende schwieg. Der Offizier ließ für ein Weilchen
    von ihm ab; mit auseinandergestellten Beinen, die Hände in
    den Hüften, stand er still und blickte zu Boden. Dann lächelte
    30
    er dem Reisenden aufmunternd zu und sagte: "Ich war gestern in Ihrer Nähe, als der Kommandant Sie einlud. Ich hörte die
    Einladung. Ich kenne den Kommandanten. Ich verstand sofort,
    was er mit der Einladung bezweckte. Trotzdem seine Macht
    groß genug wäre, um gegen mich einzuschreiten, wagt er es
    35
    noch nicht, wohl aber will er mich Ihrem, dem Urteil eines
    angesehenen Fremden aussetzen. Seine Berechnung ist sorg-
    fältig; Sie sind den zweiten Tag auf der Insel, Sie kannten den
    alten Kommandanten und seinen Gedankenkreis nicht, Sie sind
    in europäischen Anschauungen befangen, vielleicht sind Sie ein
    40
    grundsätzlicher Gegner der Todesstrafe im allgemeinen und
    einer derartigen maschinellen Hinrichtungsart im besonderen,
    _________________________________________________________________

    Franz Kafka: Erzählungen

    - 68 -
    Sie sehen überdies, wie die Hinrichtung ohne öffentliche An-
    teilnahme, traurig, auf einer bereits etwas beschädigten Ma-
    schine vor sich geht - wäre es nun, alles dieses zusammenge-
    nommen (so denkt der Kommandant), nicht sehr leicht mög-
    5
    lich, daß Sie mein Verfahren nicht für richtig halten?
    Und wenn Sie es nicht für richtig halten, werden Sie dies
    (ich rede noch immer im Sinne des Kommandanten) nicht
    verschweigen, denn Sie vertrauen doch gewiß Ihren vieler-
    probten Überzeugungen. Sie haben allerdings viele Eigentüm-
    10
    lichkeiten vieler Völker gesehen und achten gelernt, Sie wer-
    den daher wahrscheinlich sich nicht mit ganzer Kraft, wie Sie
    es vielleicht in Ihrer Heimat tun würden, gegen das Verfahren
    aussprechen. Aber dessen bedarf der Kommandant gar nicht.
    Ein flüchtiges, ein bloß unvorsichtiges Wort genügt. Es muß
    15
    gar nicht Ihrer Überzeugung entsprechen, wenn es nur schein-
    bar seinem Wunsche entgegenkommt. Daß er Sie mit aller
    Schlauheit ausfragen wird, dessen bin ich gewiß. Und seine
    Damen werden im Kreis herumsitzen und die Ohren spitzen;
    Sie werden etwa sagen:
    20
    'Bei uns ist das Gerichtsverfahren ein anderes', oder 'Bei
    uns wird der Angeklagte vor dem Urteil verhört', oder 'Bei uns
    gab es Folterungen nur im Mittelalter'. Das alles sind Bemer-
    kungen, die ebenso richtig sind, als sie Ihnen selbstverständ-
    lich erscheinen, unschuldige Bemerkungen, die mein Verfahren
    25
    nicht antasten. Aber wie wird sie der Kommandant

Weitere Kostenlose Bücher