Erzählungen
außerordentlich beweglich und nicht zu
fangen ist.
Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppen-
haus, auf den Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monate-
lang nicht zu sehen; da ist er wohl in andere Häuser übersie-
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delt; doch kehrt er dann unweigerlich wieder in unser Haus
zurück. Manchmal, wenn man aus der Tür tritt und er lehnt
gerade unten am Treppengeländer, hat man Lust, ihn anzu-
sprechen. Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fra-
gen, sondern behandelt ihn schon seine Winzigkeit verführt
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dazu wie ein Kind. "Wie heißt du denn?" fragt man ihn. "Odradek", sagt er. Und wo wohnst du? "Unbestimmter Wohnsitz", _________________________________________________________________
Franz Kafka: Erzählungen
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sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne
Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Ra-
scheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist
zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu
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erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein
scheint.
Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird.
Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art
Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; 10
das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa
noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nach-
schleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er
schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er
mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzli-
15
che.
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Franz Kafka: Erzählungen
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ELF SÖHNE
Ich habe elf Söhne.
Der erste ist äußerlich sehr unansehnlich, aber ernsthaft
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und klug; trotzdem schätze ich ihn, wiewohl ich ihn als Kind
wie alle andern liebe, nicht sehr hoch ein. Sein Denken scheint
mir zu einfach. Er sieht nicht rechts noch links und nicht in die Weite; in seinem kleinen Gedankenkreis läuft er immerfort
rundum oder dreht sich vielmehr.
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Der zweite ist schön, schlank, wohlgebaut; es entzückt, ihn
in Fechterstellung zu sehen. Auch er ist klug, aber überdies
welterfahren; er hat viel gesehen, und deshalb scheint selbst
die heimische Natur vertrauter mit ihm zu sprechen als mit
den Daheimgebliebenen. Doch ist gewiß dieser Vorzug nicht
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nur und nicht einmal wesentlich dem Reisen zu verdanken, er
gehört vielmehr zu dem Unnachahmlichen dieses Kindes, das
zum Beispiel von jedem anerkannt wird, der etwa seinen viel-
fach sich überschlagenden und doch geradezu wild beherrsch-
ten Kunstsprung ins Wasser ihm nachmachen will. Bis zum
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Ende des Sprungbrettes reicht der Mut und die Lust, dort aber
statt zu springen, setzt sich plötzlich der Nachahmer und hebt
entschuldigend die Arme. Und trotz dem allen (ich sollte doch
eigentlich glücklich sein über ein solches Kind) ist mein Ver-
hältnis zu ihm nicht ungetrübt. Sein linkes Auge ist ein wenig
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kleiner als das rechte und zwinkert viel; ein kleiner Fehler nur, gewiß, der sein Gesicht sogar noch verwegener macht als es
sonst gewesen wäre, und niemand wird gegenüber der unnah-
baren Abgeschlossenheit seines Wesens dieses kleinere zwin-
kernde Auge tadelnd bemerken. Ich, der Vater, tue es. Es ist
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natürlich nicht dieser körperliche Fehler, der mir weh tut, son-
dern eine ihm irgendwie entsprechende kleine Unregelmäßig-
keit seines Geistes, irgendein in seinem Blut irrendes Gift,
irgendeine Unfähigkeit, die mir allein sichtbare Anlage seines
Lebens rund zu vollenden. Gerade dies macht ihn allerdings
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andererseits wieder zu meinem wahren Sohn, denn dieser sein
Fehler ist gleichzeitig der Fehler unserer ganzen Familie und an diesem Sohn nur überdeutlich.
Der dritte Sohn ist gleichfalls schön, aber es ist nicht die
Schönheit, die mir gefällt. Es ist die Schönheit des Sängers:
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der geschwungene Mund; das träumerische Auge; der Kopf,
der eine Draperie hinter sich benötigt, um zu wirken; die un-
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Franz Kafka: Erzählungen
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mäßig sich wölbende Brust; die leicht auffahrenden und viel zu
leicht sinkenden Hände, die Beine, die sich zieren, weil sie
nicht tragen können. Und überdies: der Ton seiner Stimme ist
nicht voll; trügt einen Augenblick; läßt den Kenner aufhor-
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chen; veratmet aber kurz
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