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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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der Abreise aufgegeben hatte; dann erst, sich besinnend, nannte er den Namen des alten Gasthofs, in dem er Quartier bestellt hatte. Hinter einer Kirche, zwischen hohen, düsteren Häusern der inneren Stadt gelegen, bot er nicht den freundlich-festlichen Anblick dar, mit dem neuentstandene den Anlangenden willkommen zu heißen pflegen; Robert aber hatte gerade diesen gewählt, nicht nur, weil seine Geldmittel, wenn auch noch leidlich zusammengehalten, ihm einen längeren Aufenthalt in einer der modernen Fremdenherbergen nicht gestatteten, sondern auch, weil er grade hier in einem Zimmer des vierten Stockwerks vor vielen Jahren in Gesellschaft eines längst verstorbenen Freundes, dessen Geliebte hier wohnte, manche fröhliche Stunde verbracht hatte. In seiner Erinnerung hatte er das Bild des Gasthofes sonderbarerweise wie das eines kleinen, alten Palastes aufbewahrt und suchte nun vergeblich nach den Spuren verblichener Pracht, die damals eine solche Täuschung hervorgerufen oder begünstigt haben mochten. Weder gab es die kunstreichen Zierate an dem eisernen Treppengeländer, noch waren an den Flurdecken die barocken Reliefs zu sehen, die er zu finden erwartet hatte; und der Stiegenteppich, schmal und zerschlissen, schimmerte in einem verblaßten und ärmlichen Purpurrot. Doch das Zimmer, das man ihm anwies, hochgewölbt, mit zwei breiten Fenstern, behaglich eingerichtet und mit dem Ausblick auf die grünpatinierte Kirchenkuppel, versöhnte ihn mit dem trübseligen ersten Eindruck. Er ließ sein Gepäck heraufschaffen und machte sich sofort daran, mit Hilfe einiger Kleinigkeiten aus eigenem Besitz, die er auch auf Reisen stets mit sich zu fuhren pflegte, wie Briefmappe, Papiermesser, Aschenschale und dergleichen, dem Gasthofzimmer einen leisen Schein von Häuslichkeit zu verleihen. Nachher begab er sich in das Badezimmer, dem wohl anzumerken war, daß es nur nach der widerwillig anerkannten Forderung einer neuen Zeit aus irgendeinem unbenutzten Bodenraum für seine jetzige Bestimmung umgewandelt worden war. Eine gelbliche, in die Decke eingelassene Lampe verbreitete spärliches Licht in dem fensterlosen Raum, und durch den länglichen Spiegel, der in einem glatten, alten Goldrahmen an der Wand hing, ging ein Sprung von unten bis oben. Seiner Gewohnheit nach blieb Robert ziemlich lange im Bad, dann, den rauhen, weißen Mantel um die Schulter geschlagen, trat er vor den Spiegel hin und fand sein bartloses, schmales Gesicht recht frisch, ja sogar für seine dreiundvierzig Jahre von ziemlich jugendlichem Aussehen. Schon wollte er sich befriedigt abwenden, als aus dem trüben Glas in rätselhafter Weise ein fremdes Auge ihn anzublicken schien. Er beugte sich vor und glaubte zu bemerken, daß das linke Lid tiefer herabsinke als das rechte. Er erschrak ein wenig, prüfte mit den Fingern nach, zwinkerte, preßte die Lider fest aneinander und öffnete sie wieder – doch der Unterschied gegenüber der rechten Seite blieb bestehen. Er kleidete sich rasch an, trat vor den großen Wandspiegel zwischen den beiden Fenstern, öffnete die Lider, so weit er vermochte, und mußte feststellen, daß das linke Lid seinem Willen nicht so rasch gehorchte wie das rechte. Doch das Auge selbst blickte klar, die Pupille antwortete dem Lichtreiz ohne Zögern; und da Robert sich überdies erinnerte, daß er die Nacht hindurch auf der linken Seite gelegen hatte, schien immerhin eine genügende Erklärung für die Schwäche des Lids gegeben. Trotzdem nahm sich Robert vor, morgen Doktor Leinbach oder Otto zu Rate zu ziehen oder, lieber noch, es darauf ankommen zu lassen, ob sein Bruder die Ungleichheit der Lider selbst entdecken würde. Zugleich aber fühlte er diesen Vorsatz wie von einer unbestimmten Angst durchzittert, ungefähr so, als wenn er etwas Unrechtes begangen hätte und zumindest eines Verweises, wenn nicht gar einer Strafe gewärtig sein müßte. Zuerst wehrte er sich dagegen, diese Regung zu verstehen; dann streckte er beide Arme aus, wie um einen nahenden Feind abzuwehren, entfernte sich von seinem Spiegelbild und trat zum Fenster hin, an das die schweren Regentropfen klatschten. Sein Blick fiel auf die Marmorstatue des heiligen Christophorus, die gegenüber in einer Mauernische der Kirche stand, geradeso wie vor zwanzig Jahren. Nun erst merkte er, daß er sich in demselben Zimmer befand, das die Geliebte seines Freundes Höhnburg vor so vielen Jahren bewohnt hatte; nur die Möbel waren neu, und statt der schweren dunkelroten

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